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Flashback: Kalkulierte Krümmungen

Die Muschelschalen in Beton von Ulrich Müther. Ein Besuch auf Rügen.

Muscheln am Ostseestrand sollen den wohl bekanntesten Bauingenieur der DDR inspiriert haben, die nur wenige Zentimeter dicken Hyparschalen aus Beton zu entwickeln, mit denen er international bekannt wurde. Ein Besuch auf Rügen

von Dina Dorothea Falbe, 07.05.2018

Den ganzen Tag sind wir am Naturpark Jasmund entlanggesegelt. Gerade wollen wir unsere Yacht bereitmachen, um in den Stadthafen von Sassnitz einzulaufen, und die elegante Kurmuschel zwischen Wald und Meer ist das erste Bauwerk, das wir von Sassnitz sehen. Die filigrane Betonschale fächert sich auf zwischen zwei gebauten „Perlen“, an die eine kleinteilige Pergola anschließt, um zwischen Park und Landschaft den Kurplatz zu markieren. Das freistehende Ensemble scheint genau die Eindrücke widerzuspiegeln, die wir in den letzten Stunden von der Küstenlandschaft Rügens gewonnen haben.

Dass der Schöpfer der Kurmuschel, Ulrich Müther, der wohl bekannteste Bauingenieur der DDR, von dieser Insel stammt, scheint logisch. 1987 baute er sie mit dem Architekten Dietmar Kuntzsch. Muscheln am Ostseestrand sollen Müther inspiriert haben, die nur wenige Zentimeter dicken Hyparschalen aus Beton zu entwickeln, mit denen er international bekannt wurde – er baute in Tripolis, Havanna und Wolfsburg.

Erfunden hat Müther diese moderne Konstruktionsweise nicht. Das erste Patent auf Stahlbetondächer in der Form von hyperbolischen Paraboloiden soll eine Avantgarde-Ingenieurin 1928 in der Sowjetunion angemeldet haben. Als Pionier gilt außerdem beispielsweise Félix Candela, der 1960 mit Mies van der Rohe eine Bacardi-Fabrik in Mexiko baute. Candela soll vom architektonischen Ausbau seiner Schalen als „Details“ gesprochen haben, die später „unabhängig von der Idee“ erfolgten. Auch Ulrich Müther war vor allem an der großen klaren Form interessiert, deren Berechnung er als Herausforderung ansah.

Nicht zuletzt seine einzelgängerische, aber charismatische Art dürfte es Ulrich Müther ermöglicht haben, seine Unabhängigkeit als Ingenieur und Bauunternehmer gegen die Verstaatlichungstendenzen in der DDR zu verteidigen. 1934 in Binz geboren, hatte er dort 1956 den Betrieb seines Vaters übernommen. 1963 begann er, Hyparschalen zu bauen. Innerhalb von ein bis zwei Jahren konnte Müther das Tragwerk der mehrfach gebogenen Betonschale eines Projektes berechnen und auch selbst errichten. Den Ausbau übernahmen entweder bei ihm angestellte Architekten oder externe Kollektive. Wenn die Erfahrungswerte nicht ausreichten, holte sich Müther Unterstützung von der TU Dresden, wo weitere Schalenexperten tätig waren. So gelangte er schon Ende der Sechzigerjahre als „Vater der Hyparschalen“ zu regionaler Berühmtheit.

Obwohl der Rohbau in kurzer Zeit fertig wurde, mussten viele Arbeitsstunden in die komplexe Schalung investiert werden, dafür wurde nur wenig Beton benötigt. Das passte zu den wirtschaftlichen Gegebenheiten des real existierenden Sozialismus, wo Arbeitskraft eher verfügbar war als Baumaterial. Die auf klassischer Mathematik beruhenden Schalenkonstruktionen eigneten sich zudem hervorragend, um die wissenschaftlich-technische Fortschrittlichkeit der DDR auf ikonische Weise zu repräsentieren. Im Laufe seiner Karriere errichtete Ulrich Müther zahlreiche Sonderbauten wie Restaurants, Messehallen, Planetarien, aber auch futuristische Bushaltestellen.

Müthers Schalen waren im Sozialismus zuhause, doch ihre Wirkung reichte über seine Grenzen hinaus. Mit seinem 1983 fertiggestellten Planetarium in Wolfsburg steht Müther in der Verlängerung der Porschestraße gewissermaßen in einer Linie mit Hans Scharoun, Alvar Aalto und Zaha Hadid. Ergeben hatte sich der Auftrag über die Zusammenarbeit mit dem ostdeutschen Erfolgskonzern Carl Zeiss Jena, der schon früher mit Ulrich Müther ein Planetarium in Cottbus gebaut hatte. Im Laufe der Achtzigerjahre entstanden unter Beteiligung Müthers weitere Planetarien im westlichen Ausland, denn das Devisengeschäft war lukrativ: Der Legende nach wurden aus Wolfsburg Tausende VW-Golf in die DDR geliefert.

Eines der früheren Müther-Projekte ist der 1968 errichtete Teepott, der noch heute als Wahrzeichen von Rostock-Warnemünde gilt. Anstelle der ehemaligen Gaststätte betreibt heute eine Bäckereikette ein kleines Café, in dem man leider weder den Ausblick zum Strand noch die spannende Dachkonstruktion erfahren kann. Wenig erinnert an die Grosszügigkeit des ursprünglichen architektonischen Ausbaus. Obwohl der Umbau das Gebäude so zum Negativen veränderte, hatte ihm Müther 2002 zugestimmt. Vermutlich war er froh, dass der Teepott überhaupt stehen bleiben konnte – nach der Wende befand sich das Ansehen der DDR-Architektur auf dem Tiefpunkt.

Im Jahr 2000 wurde die Großgaststätte Ahornblatt auf der Berliner Fischerinsel abgerissen. Was dort heute steht, reicht lange nicht an die architektonische Qualität der 1973 eröffneten Schalenkonstruktion von Ulrich Müther heran. Auch deshalb setzen sich Architekturfans heute verstärkt für den Erhalt dieser Bauten ein. Hyparschalen sehen eindrucksvoll aus, entsprechen jedoch nicht dem heute maßgeblichen Effizienzgedanken. Die einstigen Landmarken der DDR scheinen sich Profitdenken zu entziehen. Einige sind mittlerweile verschwunden oder durch fehlende Nutzungskonzepte gefährdet. Auch seine ikonische Stellung bewahrt den Teepott Warnemünde bis heute nicht vor Abrissgerüchten. Erst kürzlich berichtete die Lokalpresse, der Teepott sei „marode“. Das Tragwerk sei beim Umbau „durchtrennt“ worden. Wieder ist die Zukunft des Wahrzeichens ungewiss.

Selbst in seiner Heimat, auf der Insel Rügen, war das Interesse an Ulrich Müther und seinem Werk nach 1989 zunächst gering. Er selbst mietete für seinen Nachlass Räumlichkeiten in Prora an. Weil auch Adolf Hitler um die touristischen Qualitäten der Insel wusste, hatte er diese gigantische KDF-Ferienanlage in den Dreißigerjahren bauen lassen. Nach langem Leerstand und sporadischer Nutzung wurde vor einigen Jahren mit dem Umbau zu Luxuswohnungen begonnen. Müthers Nachlass musste die ohnehin zu feuchte Lagerstätte in Prora verlassen und wurde 2006, ein Jahr vor seinem Tod, von der Hochschule Wismar übernommen. Im dortigen Müther-Archiv sind heute die zahlreichen Pläne, Modelle und Akten allen Interessenten zugänglich. Mittlerweile scheint zumindest seine Heimatstadt Binz erkannt zu haben, was sie an Müther und seinem Werk hat: 2015 wurde ein Platz nach ihm benannt.

Gerade auch die kleinen Objekte, von denen Müther auf Rügen einige schuf, werden heute wegen ihres ästhetischen Wertes geschätzt. Über den Binzer Dünen schwebt beispielsweise ein kleines Raumschiff, seit 2006 Außenstandort des Binzer Standesamtes. Müther hatte diese Rettungsstation der Strandwache 1981 gemeinsam mit dem Architekten Dietrich Otto errichtet. Im letzten Jahr ermöglichte die Wüstenrot Stiftung eine fachkundige Sanierung der Rettungsstation und auch der Kurmuschel in Sassnitz. So können diese beiden Kleinode den Naturgewalten weiterhin trotzen und bleiben zukünftigen Generationen als Ziel für romantische Abendspaziergänge erhalten.

Müther-Archiv
Der berufliche Nachlass von Ulrich Müther umfasst mehrere tausend Originalpläne und Fotografien, Schriftgut, 30 Modelle, 270 Laufmeter Akten sowie technische Geräte und Mobiliar. Das Müther-Archiv an der Hochschule Wismar arbeitet daran, den kompletten Bestand öffentlich zugänglich zu machen. Bis Anfang 2020 soll die wissenschaftliche Aufbereitung abgeschlossen sein.


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Müther-Archiv

www.muether-archiv.org

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