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Biennale 2011: Und die Uhr, die tickt

von Norman Kietzmann, 08.06.2011


Schädel, Uhren und transzendente Farbräume: Die 54. Kunstbiennale von Venedig rückt unter der Leitung der Schweizer Kuratorin Bice Curiger das Motiv der Vergänglichkeit in den Mittelpunkt. Auch die Vergabe der Goldenen Löwen erwies sich hierbei als konsequent: Wurde der deutsche Pavillon als sakrale Erinnerungsstätte an den verstorbenen Christoph Schlingensief ausgezeichnet, erhielt den Preis für die beste Einzelleistung das filmische Meisterwerk The Clock von Christian Marclay.



Fast unscheinbar hängen sie neben den Großformaten Tintorettos, die den Besucher im großen Saal des Biennale-Pavillons in den Giardini empfangen: die Bilder des Schweizer Malers Bruno Jakob, der seine unsichtbaren Motive allein mit Wasser auf die weiß gebliebenen Leinwände aufträgt und mit dem Verzicht auf alles Sichtbare kaum gegensätzlicher zu den Arbeiten Tintorettos sein könnte. „ILLUMInations“ lautet das Thema, das die Schweizer Kuratorin Bice Curiger der 54. Kunstbiennale von Venedig verordnete – und damit weit mehr als nur das Licht- und Schattenspiel des barocken Meisters in die Räume der Gegenwart befördert. Es sind vor allem die Allegorien des Todes, die von vielen Künstlern dieser Biennale behandelt werden und die Schau – als wäre Venedig nicht schon morbide genug – in ein begehbares Memento Mori verwandeln.

Barocke Transzendenz

Die Platzierung dreier Hauptwerke Tintorettos (1518-1594) – darunter das „Letzte Abendmahl“ (1592-1594), die „Bergung des Heiligen Markus“ (1562-1566) sowie die „Erschaffung der Tiere“ (1550-1553) – war eine Provokation, die aufging. Weniger aufgrund ihrer formellen Überschneidungen oder einer besonderen Art der Hängung, sondern dadurch, dass sie da waren und für viele der teilnehmenden Künstler den passenden Rahmen boten, um selbst mit barocker Symbolik und Transzendenz die Brücke ins fiktive Jenseits zu schlagen. Vor allem in den Räumen des Arsenale, jenem über einen Kilometer lagen Ausstellungsparcours, der einst als Lager der venezianischen Marine diente, reihen sich die Motive des Vergänglichen wie an einer Perlenschnur dicht aneinander.

Konsequent wirkt hierbei vor allem die Arbeit des Schweizers Urs Fischer, der eine stehende männliche Figur, einen Bürodrehstuhl sowie eine detailgetreue Nachbildung des „Raub der Sabinerinnen“ – einer sechs Meter hohen Barockskulptur, die der flämisch-italienische Bildhauer Giovanni Bologna 1583 aus Marmor schuf – aus Kerzenwachs anfertigen ließ. Während der Dauer der Biennale werden die Arbeiten vollständig verbrennen und die Etappen ihres Verfalls offen zur Schau stellen. Die Wirkung, die die Arbeit in den kommenden Wochen entfalten wird, ließ sich bereits während der Eröffnungstage erahnen. Von den Haaren der stehenden männlichen Figur, der auf dem Kopf im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht aufgegangen ist, ziehen sich bereits die ersten Zöpfe aus geschmolzenem Wachs auf das dunkle Jackett der Figur herab. 

Der Lauf der Zeit

Nur wenige Meter weiter sind sie laut am Ticken, die abertausenden Uhren, die der Brite Christian Marclays aus unzähligen Kinofilmen zu einem rasanten 24-stündigen Film zusammenschnitt. „The Clock“, so der Titel der Arbeit, die zu Recht den Goldenen Löwen für die beste Einzelleistung erhielt, verdichtet die einzelnen Filmschnipsel nicht nur zu einer fiktiven, zusammenhängenden Handlung. Auch der Lauf der Zeit wurde präzise an die reale Zeit des Betrachters angepasst, sodass der Film den vorbeieilenden Biennalebesuchern stets die genaue Uhrzeit verrät.

Auf Transzendenz setzte unterdessen James Turrell mit seiner Arbeit The Ganzfeld Piece. Der begehbare, tunnelartige Farbraum mündet in einen zweiten Raum, der vollständig mit einer Wolke aus weißem Dampf gefüllt ist. Unsichtbare LED-Bänder tauchen die Räume in wechselnde Farben, die sich kontinuierlich annähern oder wieder entfernen und somit die räumlichen Grenzen verschwimmen lassen. „Sehen als Fühlen“ beschreibt Turrell die Wahrnehmung des Lichts, dem keine andere Bedeutung entspringen müsse als seine eigene Erscheinung. 

Wasser als verbindendes Element


Einen sinnlichen Einsatz von Licht stellt ebenso der griechische Pavillon mit der Installation Beyond Reforme der Künstlerin Diohandi in den Mittelpunkt. Diese ließ den Ausstellungsraum vollständig mit Wasser fluten und platzierte einen schmalen Steg über die von Lautsprechern in leichte Wellen versetzte Wasseroberfläche, der einen seitlichen Bogen schlägt. Wenn die Besucher den Pavillon betreten, dessen Architektur unter einem Gerüst auf eine hölzerne Box reduziert wurde, blicken sie auf einen vertikalen, leuchtenden Balken, der unmittelbar ins Wasser übergeht. Steht an dieser Stelle vor allem die kontemplative Wirkung der Arbeit im Vordergrund, nehmen sowohl der israelische als auch der türkische Pavillon den Umgang mit Wasser weitaus kritischer unter die Lupe.

Plan B heißt die Installation, mit der Ayse Erkmen den türkischen Pavillon im Arsenale mit einem wirren Geflecht aus Rohren und Pumpen bespielt. Auf der Rückseite des Gebäudes wird Wasser aus einem Kanal in den Ausstellungsraum gepumpt, dort gereinigt und anschließend wieder zurück in den dreckigen Kanal geleitet. Wird die Verschwendung von Trinkwasser allein über die Präsenz der Rohre und der laut vor sich hin ratternden Pumpstation deutlich, ließ die in Tel Aviv lebende Künstlerin Sigalit Landau schwere Wasserleitungen durch die Wände des israelischen Pavillons hindurch brechen. Im oberen Stockwerk ihrer Arbeit One Man's Floor is another Man's Feelings wird in einem Film der Bau einer fiktiven Brücke aus Salz angeregt, die künftig Israel und Jordanien miteinander verbinden soll. Von Salz überzogene Fischernetze, die auf den hochästhetischen Aufnahmen Landaus wie kostbare Schmuckstücke wirken, illustrieren die Folgen der möglichen Austrocknung. 

Vögel und Marionetten

Was auffällt, ist, wie selten im Arsenale und in den Länderpavillons der Giardini tatsächlich Menschen und Gesichter in den gezeigten Arbeiten zu sehen sind. Hat die Architekturbiennale im vergangenen Jahr bewusst den Menschen in die gebaute Umgebung zurückgeholt, scheint diese Kunstbiennale ihm nur auf metaphorischem Wege begegnen zu können. So zeigt der französische Künstler Jean-Luc Mylayne im Arsenale großformatige Aufnahmen trinkender Vögel, die er am Rande einer einzeln stehenden Regentonne inmitten der Wüste ablichtete. Und sollten die Menschen dennoch den direkten Blick in die Kamera wagen, wirken sie so kalt und abwesend wie die Tänzer aus dem Video Untitled Ghost der jungen israelischen Künstlerin Lad Lassry. Wandelt eine Balletttänzerin langsam eine Treppe herab und lässt dabei unweigerlich an den herabsteigenden Akt von Man Ray denken, erinnert ihre halbtransparente Erscheinung an die Langzeitbelichtungen aus den frühen Tagen der Fotografie. Auch hier erzeugt die Szenerie eine unwirkliche, beinahe mystische Stimmung, während die Bewegung der Tänzer von Geisterhand gelenkt scheint.

Posthume Wiederkehr

„Höhere Wesen“ machte Sigmar Polke einst für einige seiner Arbeiten verantwortlich. Rund ein Jahr nach dem Tod des Malers kehrt auch er auf die Biennale zurück, darunter mit der Serie Strahlen Sehen von 2007 sowie dem über drei Meter hohen Gemälde Polizeischwein, das bereits 1986 an die Außenfassade des deutschen Pavillons montiert wurde. Bice Curiger wollte hierbei vor allem das Werk und weniger die Person Sigmar Polkes im Zusammenhang mit den Arbeiten jüngerer Künstler der Hauptausstellung setzen. Im Vergleich dazu wird der deutsche Pavillon umso mehr zur Erinnerungsstätte Christoph Schlingensiefs, der dieses Jahr mit dem Goldenen Löwen für den besten Länderpavillon ausgezeichnet wurde.

Kirche der Angst vor dem Fremden in mir
lautet der Titel der Arbeit, die die Kuratorin Susanne Gaensheimer zusammen mit Aino Laberenz, der Witwe Schlingensiefs, in einen atmosphärischen Nachbau eines Altarraums übersetzte. Filme, die an die Wände projiziert werden, erzeugen eine wilde Collage aus Theater-, Film- und Musikbeiträgen, während das gedämpfte Licht und andächtige Orgelmusik eine sakrale Stimmung erzeugen. Schlingensief, designierter Biennale-Kurator, der seinen Beitrag nicht mehr selbst umsetzen konnte, hatte den nun verwendeten Altar als Bühnenbild für sein Fluxus-Oratorium anfertigen lassen, das 2008 im Rahmen der Ruhrtriennale uraufgeführt wurde. Bedrückend wirken in diesem Zusammenhang vor allem die Röntgenbilder von Schlingensiefs Lunge, die mit gekreuzigten Jesusstatuen überlagert wurden und die Auseinandersetzung des Künstlers mit seinem eigenen Tod spürbar machen.

Sakrale Übergänge

Auch der Belgier Jan Fabre widmet sich mit seine Installation Pietàs dem Übergang zwischen Leben und Tod. Inmitten der eindrucksvollen Nuova Scuola Grande di Santa Maria della Misericordia platzierte er auf einem von Blattgold überzogenen Podest vier übergroße Gehirne aus Marmor, während am Ende des Raumes eine Neufassung der Pietà von Michelangolo thront. „Die Pietà ist für mich das Symbol, stärker im Jenseits als im Jetzt zu leben. Das Leben wird damit zu einer geborgten Zeit. Der Mann, der in den Armen Marias liegt, ist Gott selbst. Er trägt einen Anzug und ist barfuß. Das ist das Zeichen dafür, dass er sich bereits auf dem Weg ins Jenseits befindet“, erklärt Fabre seine Arbeit. Dass er dem sterbenden Jesus sein eigenes Gesicht verlieh, erklärt er mit seinem eigenen Schicksal, bereits zweimal im Koma gelegen zu haben und ebenso sein Leben als geborgte Zeit zu betrachten.

Wird der Reichtum des Lebens bei Fabre durch eine Vielzahl von Insekten thematisiert, die die einzelnen Skulpturen übersäen, lässt Anish Kapoor dagegen mächtig Rauch aufsteigen. Als Bühne für seine Arbeit Ascension konnte er die Basilica San Giorgio Maggiore auf der gleichnamigen Insel gegenüber des Markusplatzes gewinnen, die 1566 bis 1610 von Andrea Palladio errichtet wurde. In der Vierung, wo Haupt- und Mittelschiff aufeinandertreffen, wird kontinuierlich Dampf aus einem zylinderförmigen Aufbau abgelassen. Dieser wird über vier Türme, die mit jeweils zwölf leistungsstarken Ventilatoren bestückt sind, in eine strudelartige Bewegung in Richtung Kuppel versetzt und anschließend über einen Abzug wieder aus dem Gebäude heraus gesogen. „Mich interessiert die Idee, wenn das Immaterielle zu einem Objekt und Rauch zu einer Säule wird. Zudem ist in dieser Arbeit die Vorstellung enthalten, wie Moses einer Säule aus Rauch folgt, einer Säule aus Licht, in die Wüste hinein“, erklärt Kapoor sein Konzept. 

Kuratoren versus Künstler

Gelang dem Kunsthaus Bregenz ein geschickter Marketingcoup, indem es leuchtende rote Stofftaschen mit dem Aufdruck „Free Ai Wei Wei“ in Umlauf schickte und damit auf die anstehende Ausstellung des inhaftierten Künstlers aufmerksam machte, wirkte die aus wenigen Teilnehmern bestehende Demo vor der Eröffnung des chinesischen Pavillons eher halbherzig. Dass dennoch auf einer Biennaleeröffnung Konflikte offen ausgetragen werden können, zeigte diesmal der rumänische Pavillon. Auch wenn am vergangenen Mittwoch wie geplant die gemeinsame Pressekonferenz der Ausstellung Performing History stattfand, brodelte es hinter den Kulissen gewaltig. In der Nacht zum Donnerstag gingen die Künstler Ion Grigorescu, Anetta Mona Chisa und Lucia Tkácová schließlich zur Tat über und übersprühten ihre eigenen Arbeiten mit oranger Farbe.

Die Schriftzüge „Trust or Control“, „Reclaim or Sustain“ oder „Deal or Feel“ prangen nun an den Wänden als Protest gegen die Arbeit der Kuratoren Maria Rus Bojan und Ami Barak, die in den Augen der Künstler lediglich in ihrem eigenen Interesse handelten und die Belange der Künstler nicht ernst nahmen. Als am folgenden Nachmittag die offizielle Eröffnung des Pavillons stattfand, waren sowohl die Künstler als auch die Kuratoren anwesend – und jeder blieb in seiner Ecke. Für ein Happy-End ist es in diesem Fall vielleicht zu spät. Doch es zeigt, dass die Kraft einer Biennale bei weitem nicht nur im Jenseits gilt.


Weitere Beträge zur Kunstbiennale 2011 finden Sie im BauNetz Biennale-Special
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