Die ständige Versuchung
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Schlicht, schlichter, moralisch gut. Selten standen minimalistische Formen so hoch im Kurs, wie sie derzeit auf den großen Möbelmessen oder in zahlreichen Ausstellungen gehandelt werden: Eine klare, puristische Gestaltung soll inmitten unsicherer Zeiten Orientierung geben. Doch wie aufrichtig kann Gestaltung sein, die selbst mit einem erhobenem Zeigefinger daherkommt?
In der Mode gilt eine Regel, die sogar verlässliche Rückschlüsse auf die Lage der Konjunktur zulässt: Bewegt sich der Saum der Röcke nach oben, stehen auch die Chancen auf einen baldigen Aufschwung höher. Was zunächst klingt, als sei es an Haaren herbeigezogen, hat sich im Laufe der vergangenen 100 Jahre als sicherer Indikator bewiesen, der selbst von seriösen Wirtschaftsgrößen in ihre Prognosen mit einbezogen wird.
Während die Frage, wie viel die Trägerinnen von sich preisgeben möchten, in direktem Zusammenhang zum Klima der Konjunktur steht, lässt sich auch im Design die wirtschaftliche Lage durchaus präzise ablesen. Zwar sind es hierbei weniger die Längen von Tischen oder Stuhlbeinen als vielmehr die Prägnanz ihrer Gestalt. Das krisenbedingte Bedürfnis nach mehr Sicherheit verlangt nach einer Formensprache, die nicht auf schnellen Effekt oder gar offensive Erotik setzt, sondern mit klaren, zeitlosen Formen eine gute Kaufentscheidung verspricht.
Ästhetisches Glaubensbekenntnis
Wird die Grenze zum Obszönen in der Mode durch die Freizügigkeit des Körpers bestimmt, übernimmt diese Rolle in der Welt der Möbel und Gebrauchsgegenstände das Ornament. Noch immer schwelt ein nicht enden wollender Streit zwischen der Fraktion der Puristen auf der einen und der der Anhänger des vermeintlich Überflüssigen auf der anderen Seite. Die Puristen sind dabei bis heute im Vorteil: Denn noch immer gilt ein Objekt des täglichen Gebrauchs, das in einer lüstern verschnörkelten Hülle daherkommt, als gestalterischer Sündenfall. Zu schnelllebig, zu kitschig oder gar zu hässlich lauten die Vorwürfe der strengen Funktionalisten, die – der Postmoderne und ihrer Demokratisierung des Designbegriffs zum Trotz – noch immer die moralische Instanz in der Gestaltung für sich beanspruchen.
Dabei, das zeigt der Blick auf die Designgeschichte, ist auch der Purismus keineswegs eindeutig zu lesen: „Ob es sich um Luxus, Armut oder Askese handelt, um Verzicht als Variante des Überflusses, um Entbehrung, etwa unter Bedingungen von Haft, um Enthaltsamkeit als spirituelle Haltung im Kloster oder spartanische Strenge als totalitäre Unterdrückung – die Semantik reduzierter Formen ergibt sich vor allem aus dem Kontext, in dem sie uns erscheinen“, gesteht der Kurator der Ausstellung „Essenz der Dinge“, Mathias Schwartz-Clauss, die sich derzeit im Vitra Design Museum in Weil am Rhein auf die Spuren der Einfachheit begibt.
Transparenz der Strategie
Der Blick auf die Neuheiten, die auf den Möbelmessen in Köln und Mailand in diesem Jahr zu sehen waren, gibt vor allem dem Aspekt der Reinigung Vorrang. Doch so sehr die Abkehr von schnelllebigen Trends zu begrüßen ist, wird das Kalkül hinter den neuen Werten umso offensichtlicher. Während mit dem Kauf eines minimalistischen Einrichtungsgegenstandes bewusst an die Vernunft appelliert wird, wird der Luxus in Zeiten der Rezession wieder verdaulich gemacht. Wenn sich der Großteil aller puristischen Sofas in einem Preisniveau bewegt, das erst im fünfstelligen Bereich zum Tragen kommt, und selbst ein schlichter Esstisch mitsamt vier Stühlen für kaum weniger zu erstehen ist, relativiert sich die Betrachtung des vordergründigen Verzichts.
Die puristische Form, die auf der moralisch sicheren Seite gegenüber ihren dekorativen Pendants zu stehen scheint, bekommt einen leicht bitteren Beigeschmack, der die Frage der Moral außer Kraft setzt. Hinzu kommt die Frage der Glaubwürdigkeit: Wie aufrichtig kann eine minimalistische Form sein, die mit dem kuscheligen Gefühl von Retro daher kommt? Nicht ohne Grund spielen zahlreiche Produktneuheiten mit Referenzen auf die frühe Moderne, als die Klarheit der Form vor allem eines war: Ausdruck eines gesellschaftlichen Programms und keine Strategie des Verkaufs. Die vermeintliche Detox-Kur der heutigen Entwürfe ist kaum mehr als ein verlängerter Aufenthalt im Schönheits-Salon. Kosmetik mit gutem Gewissen, die sich mit dezenten Tönen solange bedeckt hält, bis die Umstände wieder ein feuriges Rouge zulassen.
Unter veränderten Vorzeichen
Reduktion ist gut. Aber sie sollte heute ohne die Zeichen moralischer Überlegenheit oder gar mit erhobenem Zeigefinger daherkommen. Denn auch hinter den einfachsten Formen verbirgt sich weiterhin ein dominierendes Dekor. Es sind die Namen der Designer, die darüber entscheiden, ob eine Büroklammer als banaler Alltagsgegenstand betrachtet wird oder – wenn sie wie vom belgischen Modedesigner Martin Margiela aus reinem Silber gefertigt und im Kontext seiner Kollektionen gezeigt wird – zum fetischhaften Designobjekt gerät.
Den Versuch eines Umdenkens haben an dieser Stelle bereits Jasper Morrison und Naoto Fukasawa 2006 mit ihrer Ausstellung „Super Normal“ unternommen, indem sie die gestalterische Qualität in den einfachen, unscheinbaren Dingen des Alltages suchten. Doch auch sie kommen bei ihren eigenen Entwürfen nicht umher, ihren Namen nicht unerwähnt zu lassen. „Warum schreiben all diese Minimalisten ihren Namen auf einen schlichten Hocker, der keine Erklärung braucht? Das verstehe ich nicht. Denn wenn man seinen Namen an ein Produkt haftet, dekoriert man es damit, weil er zu der eigentlichen Funktion des Objektes nichts beiträgt“, echauffierte sich Marcel Wanders jüngst über seine puristischen Kollegen. Bis heute ist Muji der einzige Designhersteller, der die Namen seiner Gestalter weder in den Geschäften noch in Anzeigen kommuniziert. Die Reduktion geht hier einher mit Diskretion – und wird auf diese Weise glaubwürdig.
Reiz der Vergänglichkeit
Einfach verhält es sich mit der puristischen Form deswegen noch lange nicht: Schließlich liegt deren Reiz vor allem in ihrer Vergänglichkeit – vergleichbar mit dem Weiß, das Kenya Hara in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Jedes noch so minimalistisch-aufgeräumte Interieur befindet sich in ständiger Bedrohung: und zwar durch die Natur des Menschen selbst, die ihn dazu zwingt, den leeren Raum mit immer neuen Dingen zu füllen und somit aufzulösen. Die Verbindung zum Spirituellen liegt hierbei in der Umkehrung des Prinzips: Der bewusste Verzicht auf das, was uns im Alltag begegnet und immer wieder aufs Neue verführt. Die Folge: das gesamte Leben gerät zu einem gestalterischen Sündenfall, da jeder neue Gegenstand, den wir mit nach Hause nehmen, sofort ein schlechtes Gewissen verursacht. Doch sollten wir uns nicht endlich von der Frage der Schuld befreien? Aufräumen lässt sich bekanntlich ja immer noch später.
Ausstellungen zum Thema:
„Die Essenz der Dinge – Design und die Kunst der Reduktion“ / Vitra Design Museum in Weil am Rhein / noch bis zum 19.09.2010
„Minimal – Kunst und Möbel aus der Sammlung des MAK“ / Museum für Angewandte Kunst MAK in Wien / noch bis zum 31.10.2010
„Norm = Form / On Standardisation and Design“ / Gemeentemuseum Den Haag / noch bis zum 15.08.2010
"Heimliche Helden – Das Genie alltäglicher Dinge" / Vitra Design Museum in Weil am Rhein, Buckminster Fuller Dome / vom 20.08.2010 bis zum 19.09.2010
„John Pawson – Plain Space“ / Design Museum London / vom 22.09.2010 bis 30.01.2011
FOTOGRAFIE Vitra Design Museum
Vitra Design Museum
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