Jung macht neu
Zwischen serienreifen Produkten und Weltverbesserer-Projekten zeigte der Nachwuchs zum Salone 2015 die ganze Bandbreite des Designs.
Die Bandbreite beim Nachwuchsdesign ist immens: Von serienreifen Möbeln und Leuchten über künstlerische Installationen bis hin zu Konzepten und Prozessen im Sinne eines problemorientierten Social Design. Der Design-Nachwuchs zeigte vergangene Woche zum Salone del Mobile 2015 in Mailand, was Gestaltung heute leisten kann. Die Knackpunkte: technologische Spielerei und Hipster-Nachhaltigkeit.
Der Salone del Mobile mag das größte Schaufenster der Möbelindustrie sein – er ist aber zugleich auch die größte Bühne für den internationalen Designnachwuchs. Zahllose internationale Hochschulen und Absolventen nutzen die Messewoche, um ihre Arbeit und sich selbst zu präsentieren. Wo sonst ist an einem Ort zugleich so viel Aufmerksamkeit versammelt – verkörpert durch Designunternehmen, Händler, Kollegen, Medien und nicht zuletzt durch ein enthusiastisches Publikum, das nach Zehntausenden gezählt werden kann. Die Präsenz des jungen Designs wird an verschiedenen Orten sichtbar: zum einen beim schon traditionellen Nachwuchsforum der Messe selbst, dem Salon Satellite, bei Ventura Lambrate, das sich im sechsten Jahr als Großevent eigenen Rechts beweist, und nicht zuletzt verstreut an verschiedenen Stellen in der Stadt – in Ausstellungen und Showrooms.
Möbel passé
Doch so selbstverständlich wie es scheint, ist das weltgrößte Möbelevent als Plattform für Hochschulen und Jungdesigner eigentlich gar nicht mehr. Denn anders als etwa zur Hochzeit des italienischen Designs in den sechziger und siebziger Jahren sind Möbel heute nicht mehr die Gestaltungsaufgabe mit dem meisten Innovationspotenzial. Oder wie es die britische Designkritikerin Alice Rawsthorn kürzlich in ihrem Beitrag „The shifting influence of Milan’s Salone del Mobile“ für das Kunstmagazin Frieze auf den Punkt brachte: „Im Gegenteil, andere Bereiche des Designs sind in dem Maße verschiedenartiger und intellektuell dynamischer geworden wie Designer ihre neuen digitalen Werkzeuge benutzen, um unabhängig ihre eigenen politischen oder ökologischen Ziele zu verfolgen anstatt die kommerziellen Interessen von Kunden. Diese Verschiebung ist offensichtlich in den Inhalten der interessantesten Studentenausstellungen, die in den leeren Fabriken und Lagerhäusern während der Mailänder Messe zu sehen sind.“
Mehr Gegenwart
Und so lassen sich Salone Satellite und Ventura Lambrate recht eindeutig entlang dieser Verschiebung unterscheiden: Während die Aussteller beim Nachwuchsforum der Möbelmesse ganz konventionell und auch naheliegend vor allem Entwürfe für Möbel, Leuchten oder Gebrauchsgegenstände zeigen, finden sich in Lambrate überwiegend prozesshafte Ansätze, Designforschung, um thematische Schwerpunkte kreisend, fast schon künstlerische Installationen. Die aus der zeitgenössischen Kunst bekannten postindustriellen Räume in dem ehemaligen Industriegebiet tun ihr Übriges. Wie anders wirkt ein Objekt vor einer rohen Betonwand als in einer Standbox. Natürlich finden sich an beiden Schauplätzen Ausnahmen von dieser Regel, trotzdem bleibt der Eindruck: Relevante Fragen unserer Zeit werden eher in Lambrate gestellt.
Neue Wohnwelten
Dabei ist auch in der Welt des Wohnens Platz für Neues: Kaum überraschend, dass unter den drei diesjährigen Preisträgern des von der Messe vergebenen Salone Satellite Award gleich zwei Leuchten sind. Der technische Wandel in der Lichtwelt fordert geradezu zur Innovation heraus. Während bei den Jungen vor kurzem noch viele Leuchten mit Glühlampen zu sehen waren, hat der Nachwuchs jetzt verstanden: Es reicht nicht mehr, eine hübsche und eventuell funktionale Hülle um eine konventionelle Lichtquelle herum zu entwerfen. Die Möglichkeiten der Beleuchtung müssen neu ausgelotet werden. Auch 3D-Druck und interaktive Technologie kamen bei der Preisvergabe zu ihrem Recht. Selbstverständlich ist beim Nachwuchs mittlerweile der Umgang mit computerbasierten Formgebung- und Fertigungsweisen und neuartigen Materialien, mit durchaus professionellen und guten Ergebnissen. Größter Knackpunkt: Wenn Technologie zum Selbstzweck wird und anstatt ganzheitlicher Gestaltung alberne Spielereien herauskommen. Passiert gerade beim 3D-Druck leider häufig.
Apfelessig für alle
In Lambrate lag der größte Knackpunkt wiederum in der individualistischen Perspektive mancher Arbeiten. Große Themen hatten sich gerade viele der Hochschulpräsentationen vorgenommen: umweltverträgliche Lebensmittelproduktion, nachhaltiger Konsum, alternative Energiegewinnung. Die jungen Gestalter spüren sehr genau, in welch instabilen, krisenhaften Zeiten wir leben. Doch häufig suchen die Weltverbesserer Lösungen in ihrem eigenen Lebensentwurf – beispielhaft zu sehen im hervorragend durchgearbeiteten Projekt der Lund School of Industrial Design. Da wurden uns hübsch-fragile Gerätschaften präsentiert, mit denen wir selbst Apfelessig, Pflanzenfarben und Kosmetik herstellen können. Ein Kühlgefäß aus Ton oder ein Joghurtbereiter aus Porzellan sichern einem bei Instagram sicher viele Likes, aber zur Zukunft unseres Planeten tragen sie nicht viel bei.
Gewollt anstößig
Die Hochschulen sind gefordert, den Horizont ihrer Studenten zu weiten. Zum Beispiel für Problemstellungen anderer Gesellschaften oder den industriellen Maßstab. Denn nur, wenn ein Material oder ein Produkt in großer Menge produziert wird, kann es wirklich etwas verändern. Wenn beispielsweise ein paar Hipster Kleidung aus recycelten Textilien tragen, ist das schön für sie. Wenn Kleidung aus recycelten Textilien aber zum Standard werden und an jeder Ecke zu kaufen sind, dann ist das schön für alle. Einige der in Lambrate gezeigten Projekte gelang es durchaus, den selbst gesteckten hohen Zielen gerecht zu werden, etwa Material Futures vom Central Saint Martins, die Präsentationen des Piet Zwart Institute oder der Maastricht Academy for Arts and Design, und größere Perspektiven zu entwickeln. Auch die Studenten der Design Academy Eindhoven stellten mit Eat Shit die richtigen Fragen und fanden gute Ansätze. Doch mit ihrem sehr lauten Auftritt und gewollten Anstößigkeiten (mumifizierte menschliche Exkremente und windelartigen Toiletten für ein kuscheligeres Pinkelerlebnis) verspielten sie einiges.
Modular
Bleibt der dritte Weg, nämlich gleich direkt mit der Industrie zu kooperieren. Der Schweizer Systemmöbelhersteller USM hatte aus Anlass seines 50. Geburtstags ein Projekt zur Aktualität von Modularität angestoßen und mehrere Hochschulen dafür gewinnen können, Aspekte des Modularen in Workshops zu untersuchen. Die Ergebnisse präsentierte USM gemeinsam mit historischen Positionen aus Architektur und Design in einer sehenswerten Ausstellung, begleitet von hochkarätig besetzten Talks.
Industriell
Aber es geht noch konkreter: Die Schweizer Ecal aus Lausanne, eine der führenden Designhochschulen, war wieder mit mehreren Kooperationsprojekten vertreten, etwa mit dem Armaturenhersteller Axor und dem Leuchtenunternehmen Luceplan. Das Ziel: Nach Recherche im Unternehmen entwickeln die Studenten eigene Produkte und produzieren mithilfe des Know-Hows der Industrie erste Prototypen. Die Studenten lernen viel über die „echte Welt“, die Firmen bekommen neue Impulse und Ideen. Und zum Salone können alle Beteiligten die entsprechende Aufmerksamkeit „ernten“. Wie immer waren unter den Beiträgen einige, denen man den Weg in die Serie unbedingt wünschen würde.
150 Jahre neu
Dasselbe gilt auch für das besonders gelungene Kooperationsprojekt der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste mit BASF aus Anlass des 150. Geburtstags des Chemiekonzerns. Die Studenten recherchierten Patente aus der Zeit um 1865, übersetzten sie in Produkte für heute und entwickelten gemeinsam mit BASF Prototypen – natürlich in Kunststoff. Ein Fahrradschloss und eine Fahrradleuchte, eine Bienenbeute, eine trag- und aufladbare LED-Leuchte, ein Ventilator, ein Feldbett: Die Ergebnisse überzeugten mit Realitätsnähe und guter Gestaltung. Auch dank der Szenografie von Ding3000 eine bemerkenswerte Schau, die bewies, dass sich solche Kooperationen für alle Beteiligten lohnen.
Produkte, die die Welt braucht
Aufgaben gibt es also mehr als genug für den Nachwuchs, und mit etwas Einsatz und der richtigen Förderung können Konzepte und Produkte entstehen, die die Welt durchaus gebrauchen kann. Dass es sich dabei nicht unbedingt um die ewig gleichen Hocker, Beistelltische und Vasen handeln muss, haben die jungen Designer bei diesem Salone bewiesen.
Alle Beiträge aus unserem großen Themenspecial Salone 2015 lesen Sie hier.
Salone del Mobile 2015
Das große Designlines Special mit Persönlichkeiten, neuen Produkten und über eine Branche in Bewegung
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