Stories

Salone del Mobile 2014: Die Weltverbesserer

Die den Kaktus streicheln: ein Nachwuchsbericht aus Mailand mit Technologie, Emotion und Vollbart.

von Jasmin Jouhar, 16.04.2014

Wie wollen wir leben? Eine große Frage, die den internationalen Gestalternachwuchs umtreibt. Zum Salone del Mobile 2014 vergangene Woche in Mailand zeigten viele junge Designer Produkte und Konzepte, die versuchen, unsere Welt im Kleinen ein bisschen besser – oder wenigstens freundlicher zu machen. Ob es darum ging, Alltagstechnologien zu zähmen, die Herkunft von Lebensmitteln zu thematisieren oder Plastik zu recyceln, zahlreiche Projekte stellten den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt. Und das auf oft gut gestaltete, innovative und amüsante Weise.

Schon mal einen Kaktus gestreichelt? Viele Besucher der Ausstellung Delirious Home in der Mailänder Innenstadt überwanden ihre Scheu und fassten die ausgestellten Stacheldinger vorsichtig an. Belohnt wurden sie mit einem Konzert absurder Geräusche, das die Kakteen darauf von sich gaben – genauer gesagt, die in den Pflanztöpfen versteckten Lautsprecher. In der Schau mit Arbeiten von Studenten der Designhochschule ECAL aus Lausanne fesselten auch balancierende Gefäße, magische Löffel und zuvorkommende Hände die Besucher. Kaum einer, der diese Zaubervorstellung von einer Designschau nicht mit einem fröhlichen Lächeln wieder verlassen hätte.

Smarte Menschlichkeit
Dabei war das Thema des Projekts ziemlich unattraktiv: Smart Home, also das von schlauen Geräten gesteuerte Zuhause, das Licht selbständig anschaltet, den Energieverbrauch überwacht und eines Tages vielleicht sogar den Kühlschrank füllt. Die Leiter Allain Bellet und Chris Kabel vermissten die Menschlichkeit im Smart-Home-Konzept: Der Ausgangpunkt des Projekts war gefunden. Den Studenten der Fachbereiche Industrial Design und Media & Interaction Design ist es gelungen, Computer, Sensoren und Mechanik zu zähmen und in Objekte und Möbel mit Humor und ästhetischem und emotionalem Potenzial zu verwandeln. Damit stehen die ECAL-Studenten exemplarisch für die Fähigkeiten junger Gestalter aus der Generation der Digital Natives, die Technologie im Dienste des Nutzers einzusetzen.

Vier Buchstaben
Im Designdistrikt Ventura Lambrate östlich der Innenstadt stellte die FH Mainz mit Interactive Objects ein ähnliches, etwas praxisnäheres Projekt aus: Hier speicherten Garderoben kurze Sprachnachrichten für Mitbewohner, zeigte ein LED-Ring am Badezimmerspiegel die richtige Zahnputzdauer oder warteten tragbare, schnurlose Leuchten auf ihren Einsatz. Im Vergleich offenbarte sich vor allem eins: die momentane Dominanz der Ecal, deren Projekte in inhaltlicher Durchdringung und gestalterischer Ausarbeitung sich deutlich von Arbeiten anderer Schulen abheben. Neben Delirious Home war die Lausanner Hochschule auch mit einem Projekt bei Cassina präsent – Studenten hatten den Sofaklassiker Maralunga neu interpretiert. Und egal ob in Lambrate, beim Salone Satellite, der Nachwuchsschau der Möbelmesse oder anderswo – viele junge Designer mit überzeugenden Präsentationen hatten vier Buchstaben im Lebenslauf: E-C-A-L.

Gemeinwohl statt 3D-Druck
Mithalten konnte am ehesten der fulminante Auftritt der Designacademy Eindhoven in Lambrate: Unter dem Titel Self Unself präsentierte die niederländische Hochschule zahlreiche Projekte, die sich mit dem Wohlergehen des Individuums, gar mit dem Gemeinwohl beschäftigten. Ein Geschirr, in das Reste aus der Lebensmittelherstellung eingearbeitet sind, Wasserkaraffen, die die Qualität von Leitungswasser zelebrieren, eine Werkstatt für Plastikrecycling im kleinen Maßstab oder Bauelemente aus Ton, die mithilfe traditioneller Techniken Kühlung spenden. Auch in der Eindhoven-Halle zeigte sich die aktuelle Tendenz, die Welt zumindest ein bisschen besser machen zu wollen. Technologie und Design dürfen mithelfen, werden jedoch nicht zum Selbstzweck. Ein Indiz: Das Lieblingsspielzeug aller Gestalternerds, der 3D-Drucker, war nur selten zu sehen.

Heizkörper im Marmorkleid
Eine bemerkenswerte Ausnahme von der niederländischen Dominanz in Lambrate: die Ausstellung Disfunzione Mediterranea mit konzeptuellen Objekten von italienischen Gestaltern. Sie untersuchten, wie aus Fehlern oder Abweichungen etwas Neues entstehen kann und zeigten Fassadenelemente mit eingerostetem Ornament, hochästhetische, aber nutzlose Amphoren oder kleine Hauben, die Smartphones vom Netz abkoppeln – endlich Ruhe! Meistens aber umarmen junge Gestalter zurzeit Technik und Elektronik: Wo vor kurzem oft noch die gute alte Glühbirne Leuchtenentwürfe erhellte, arbeitet der Nachwuchs jetzt selbstverständlich mit LED. Elektrischen Heizkörpern, Herden oder Luftbefeuchtern werden aufwändig gestaltete, wohnliche Hüllen aus Marmor verpasst wie bei dem neuen italienischen Designbrand Clique in Lambrate. Und die Initiative Slowd bringt per Internetplattform junge Gestalter mit Handwerkern aus der Nachbarschaft zusammen, die ihre Entwürfe in Kleinserie fertigen können.

Wolken in der Leuchte
Nicht zuletzt die Nachwuchsschau der Mailänder Messe, der Salone Satellite, bestätigte die Tendenz. Von den drei Preisen des diesjährigen Salone Satellite Awards gingen die ersten beiden an LED-Leuchten und lediglich der dritte an ein technikfreies Objekt, nämlich den rutschfesten Haushaltstritt des amerikanischen Studios Avandi. Den ersten Preis verlieh die Jury der Pendelleuchte Volta von From, die einen LED-Streifen in einem länglichen, runden Körper aus Stein verbirgt und drehbar gelagert ist. Ein schlichtes, aber ansprechendes Objekt, sowohl für die Wohnung als auch für das Büro. Der zweite Sieger Atmos von Arturo Erbsman ist deutlich emotionaler: Erbsman zeigte eine Serie von sphärischen LED-Leuchten namens Water Lamps, deren kugelförmige Körper mit Kondenswasser oder Wasserdampf gefüllt sind und die entsprechend diffus gestreutes Licht verbreiten.
Alles neu in Bad und Küche
Wie viel Emotionalität sich junge Gestalter trauen, bewies das anrührende Projekt The Phytophiler auf dem Salone Satellite. Dossofiorito stellte eine Serie von Töpfen für Zimmerpflanzen aus, die mit Zubehör wie Spiegeln, Lupen, Netzen oder Schirmen ausgestattet sind. Damit lassen sich die Pflanzen hegen und pflegen und ihre Schönheit besser bewundern. Auffällig auch, wie leidenschaftlich sich der Nachwuchs der Verbesserung alltäglicher Handlungen und Abläufe, etwa im Badezimmer oder bei der Zubereitung des Essens, widmet. Allegory Studio beispielsweise zeigte beim Salone Satellite mit Roundbath das Konzept eines inselartigen Bades – eine zwar noch nicht bis ins Letzte durchgestaltete, aber interessante Neuinterpretation der Nasszelle. Auch in Lambrate waren mehrere innovative, die üblichen Typologien infrage stellende Bad- und Küchenstudien zu sehen.

Nachwuchs in Uniform
Eine ungeheuer sympathische Gestaltergeneration verlässt da gerade die Hochschulen: experimentierfreudig, mit wenig Berührungsängsten, offen für die Bedürfnisse des Individuums, den schönen Dingen des Lebens zugetan – und auf hohem gestalterischen Niveau. Wenn, ja, wenn diese Gestaltergeneration sich nicht bloß freiwillig so fantasielos selbst uniformieren würde: In Lambrate trug die Hälfte des Publikums Turnschuhe der Marke mit dem nach oben geschwungenen Bogen, wozu die jungen Herren bevorzugt Vollbart, adrett gelegtes Haupthaar und runde Sonnenbrille kombinierten. Wir wünschen uns fürs nächste Jahr: Mehr Mut auch bei der Selbstgestaltung!

Alle Beiträge aus unserem großen Themenspecial Salone 2014 lesen Sie hier.

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Salone del Mobile 2014

Das große Designlines Special mit Persönlichkeiten, Trends und jeder Menge neuen Produkten

www.designlines.de

Mehr Stories

Neue Impulse setzenDOMOTEX 2026 präsentiert sich mit erweitertem Konzept

DOMOTEX 2026 präsentiert sich mit erweitertem Konzept

DOMOTEX 2026 präsentiert sich mit erweitertem Konzept

Nachhaltig und komfortabel

Mit einem archetypischen Bürostuhl revolutioniert Wilkhahn das ergonomische Sitzen

Mit einem archetypischen Bürostuhl revolutioniert Wilkhahn das ergonomische Sitzen

Büro im Kreis gedacht

WINIs nachhaltige Möbelstrategie am Beispiel einer Spanplatte

WINIs nachhaltige Möbelstrategie am Beispiel einer Spanplatte

Der Stuhl, der CO₂ speichert

Mit einer Sitzschale aus Papier setzt Arper neue Maßstäbe für nachhaltige Materialien

Mit einer Sitzschale aus Papier setzt Arper neue Maßstäbe für nachhaltige Materialien

Zwei Marken, eine Mission

Wie Fellowes und Filex den Arbeitsplatz von morgen neu denken

Wie Fellowes und Filex den Arbeitsplatz von morgen neu denken

Außenräume und Innenräume

Wie die Architekturbiennale 2025 in Venedig neue Konzepte für ein Klima im Wandel entwirft

Wie die Architekturbiennale 2025 in Venedig neue Konzepte für ein Klima im Wandel entwirft

Digitale Werkzeuge in der Innenarchitektur

Wie ein Schweizer Büro Planung, Präsentation und Produktion verbindet

Wie ein Schweizer Büro Planung, Präsentation und Produktion verbindet

Wenn Möbel Wurzeln schlagen

Ausstellung mit USM Modulen bei der Architekturbiennale Venedig 2025

Ausstellung mit USM Modulen bei der Architekturbiennale Venedig 2025

Natursteinästhetik in Keramik

Fünf neue Oberflächen erweitern das Feinsteinzeug-Programm des Herstellers FMG

Fünf neue Oberflächen erweitern das Feinsteinzeug-Programm des Herstellers FMG

Creative Britannia

Unterwegs auf der London Craft Week und Clerkenwell Design Week

Unterwegs auf der London Craft Week und Clerkenwell Design Week

Best-of Licht & Leuchten 2025

Neuheiten aus Mailand: Euroluce und Milan Design Week

Neuheiten aus Mailand: Euroluce und Milan Design Week

Diskurs statt Dystopie

Deutschlands Vision für klimaresiliente Städte auf der Biennale 2025 in Venedig

Deutschlands Vision für klimaresiliente Städte auf der Biennale 2025 in Venedig

Auf stilvoller Welle

Ikonische Tischserie wave für exklusive Objekteinrichtungen von Brunner

Ikonische Tischserie wave für exklusive Objekteinrichtungen von Brunner

Analog sitzen, virtuell denken

Wie Interstuhl seine Designkompetenz ins Digitale erweitert

Wie Interstuhl seine Designkompetenz ins Digitale erweitert

Wilkhahn Refurbishment

Ein zweites Leben für besondere Modus-Drehsessel

Ein zweites Leben für besondere Modus-Drehsessel

Spektrum der Ruhe

Wie nachhaltig sind farbige Möbel?

Wie nachhaltig sind farbige Möbel?

Genähte Systemmöbel

Raphael Klug macht Pappe zum schlüssigen Material für nachhaltiges Möbeldesign

Raphael Klug macht Pappe zum schlüssigen Material für nachhaltiges Möbeldesign

Rauchzeichen aus dem Abfluss?

Wie Entwässerungstechnik zur Sicherheitslücke beim Brandschutz werden kann

Wie Entwässerungstechnik zur Sicherheitslücke beim Brandschutz werden kann

Design als kulturelles Gedächtnis

Ausstellung Romantic Brutalism über polnisches Design in Mailand

Ausstellung Romantic Brutalism über polnisches Design in Mailand

Alles Theater

Dramatische Inszenierungen auf der Milan Design Week 2025

Dramatische Inszenierungen auf der Milan Design Week 2025

Zurück zur Kultiviertheit

Neues vom Salone del Mobile 2025 in Mailand

Neues vom Salone del Mobile 2025 in Mailand

Dialog der Ikonen

Signature-Kollektion JS . THONET von Jil Sander für Thonet

Signature-Kollektion JS . THONET von Jil Sander für Thonet

Eine Discokugel aus Schaltern

Installation „Atmosphere“ in Mailand von Ippolito Fleitz Group für JUNG

Installation „Atmosphere“ in Mailand von Ippolito Fleitz Group für JUNG

Stoffe können Meer

Kreislauffähige Textilien aus Polyester von Delius

Kreislauffähige Textilien aus Polyester von Delius

Leben im Denkmal

Ausstellung Duett der Moderne im Berliner Mitte Museum

Ausstellung Duett der Moderne im Berliner Mitte Museum

Das Prinzip Ordnung

Ausstellung über Le Corbusier im Berner Zentrum Paul Klee

Ausstellung über Le Corbusier im Berner Zentrum Paul Klee

Mission Nachhaltigkeit

Stille Materialrevolutionen bei Vitra

Stille Materialrevolutionen bei Vitra

Von Mosaiken und Möbeln

Wie das Unternehmen SICIS bei Interiorprojekten unterstützt

Wie das Unternehmen SICIS bei Interiorprojekten unterstützt

Oasen der Ruhe

Kompakte Einzelkabinen fördern konzentriertes Arbeiten im Büro

Kompakte Einzelkabinen fördern konzentriertes Arbeiten im Büro

Zwischen Zeitenwende und Tradition

Unsere Highlights der Munich Design Days und des Münchner Stoff Frühlings

Unsere Highlights der Munich Design Days und des Münchner Stoff Frühlings