Junya Ishigami: Schwerelos
Ein Porträt des japanischen Architekten Junya Ishigami.
Er liebt Radiohead, erinnert mit seinem schwarzen, eng geschnittenen Jacket und dem extravaganten Kragen irgendwie an den King of Pop und schafft mit seinen weißen Modellen abstrakte Gedankengebäude. Junya Ishigami zählt zu denen, die niemals erwachsen werden – dennoch dürfte er Architekturgeschichte schreiben.
Auf seiner ewigen Suche nach einer neuen Realität bewegt sich Junya Ishigami außerhalb der Grenzen des Möglichen: Es sind Systeme ohne Hierarchie, leichte Tragstrukturen, die fast verschwinden und Gebäude, die kein Innen und Außen haben. Ein Tisch ist für den Japaner ebenso Architektur wie ein Haus oder eine Brücke; Grundlegend für seine Arbeiten ist der Bezug zwischen Architektur und Natur. „Für mich als Japaner sind natürliche Elemente immer auch artifiziell“, erklärt der 40-jährige, der 2010 auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen geehrt wurde. „Es gibt keine echte Natur – selbst Wälder und Landschaften sind künstlich angelegt.“ Seine Lieblingspflanze ist Klee.
Schwebendes Klassenzimmer
Für Ishigami bedeuet Natur immer auch eine Form von Architektur. „Ich möchte das Innere eines Gebäudes so entwerfen, dass es sich wie ein Außenraum anfühlt“, sagt das japanische Wunderkind, das bis 2004 bei SANAA gearbeitet hat. Die extrem schmal dimensionierten Wände, Stützen und Decken entwickelt Ishigami zusammen mit dem Ingenieur Jun Sato. Bei seinem Debüt, dem Kanagawa Institute of Technology KAIT Workshop bei Tokio, sorgte er 2008 mit 63–90 Millimeter dünnen Stützen und einem unregelmäßigen Raster für Aufmerksamkeit. Ein fünf Meter hoher Stützenwald ermöglicht eine Auflösung jeglicher Wände: Es entsteht ein Außen- im Innenraum, ein schwebendes Klassenzimmer. Die zehn Meter lange Tischplatte wiederum, die Junya Ishigami 2005 in einer Galerie in Tokio installierte, wurde mit einem Durchmesser von nur 3 Milimetern fast unsichtbar – ein Spiel aus Illusion und Wirklichkeit. „Ich möchte, dass die Konstruktion ein Rätsel wird“, erklärt Ishigami.
Stühle à la Dali
Seine Möbelentwürfe sind mehr Kunst als Design: Bei seinen fünf Metallstühle aus der Serie Family Chair, die Junya Ishigami für die italienische Firma Living Divani entworfen hat, zerlaufen die Stahlgestelle wir die Uhren eines Salvador Dali. Die nackten Gartenstühle ohne Armlehne hat der japanische Architekt 2010 zum Salone in Mailand vorgestellt. Ishigami die seine Möbel, wie der dünnen lange Tisch mit seiner schwingenden Oberfläche oder die Stühle, als Experimente für seine Konstruktionen.
Archipel der Arbeit
Der 200 Quadratmeter große Pavillon des KAIT Workshop als wandlose Ideenwerkstatt ist die Weiterentwicklung des Großraumbüros mit einem entscheidenden Unterschied: Studenten und Professoren müssen sich den Raum aneignen und ihn erobern. Wer eine Wand braucht, kann sie selbst zwischen den 305 Stützen montieren; Schreibtischinseln lassen sich schnell zusammenschieben oder nach Bedarf auch wieder flexibel im Raum verteilen – je nach Situation ergibt sich die eine passende improvisierte Bürolandschaft. Der junge Architekt erzählt gerne von den Beobachtungen, die er in seinem abstrakten Wald machen konnte. Eine Kamera fotografierte über mehrere Tage Sequenzen zwischen ausgewählten Stützen und zeichnete auf, wie sich Einzelne oder Gruppen den Raum im KAIT Workshop zu eigen machten. Wenn eine Delegation japanischer Anzugträger in Zweierreihen zwischen den Stützen marschiert und dabei Schlangenlinien läuft, weil es eben keinen geraden Weg gibt, erinnert dieses Schauspiel an die wortlosen Szenen einer Slapstick-Komödie.
Kukan oder Raum ohne Zentrum
Mit KAIT Workshop hat Ishigami ein offenes Gebäude ohne Begrenzungen geschaffen, einen Raum ohne Zentrum. Damit reiht er sich in Toyo Itos Tradition der blurring architecture ein, dessen transparenter Raum der Sendai-Mediathek ein Intervall im Unendlichen zu sein scheint. Ähnlich wie es auch der japanische Begriff für Raum suggeriert: Kukan setzt sich aus den Zeichen für Luft und Intervall zusammen.
Schnitt durchs Haus
Junya Ishigami beschäftigt sich mit vielen Themen: Neben seinen Studien zur Arbeitswelten untersucht er neue Wohntypologien, und außerhalb von Tokio plant er die topographische Gestaltung von einem künstlich angelegten See, der durch kleine Inseln begehbar werden soll. In New York hat Ishigami mit seinem Shop für Yohji Yamamoto durch einen kleinen Gebäude-Schnitt eine interessante, städtebauliche Veränderung bewirkt. Gleichzeitig spielt er mit der Perspektive der eingeschossigen Backsteinkubatur. Auf der einen Seite wirkt es superschmal, von der anderen wie ein breiter Schuhkarton. Unbekannter sind Ishigamis ungebaute Projekte und Utopien, wie die Modelle von den Gewächshäusern für den japanischen Pavillon auf der Biennale 2008 oder das Group House in Akita, ein Heim für Demenzkranke, das in diesem Jahr fertig gestellt wird.
Veränderung ohne Schwerkraft
„Everything is always changing everytime“, flüstert, der japanische Architekt als Antwort auf die Frage, was für ihn Nachhaltigkeit ist; eine Zeile, die auch Thom Yorke singen könnte. „We always want to try, change situations before they change.“ Bei Junya Ishigami gibt es keine Schwerkraft.
Bis zum 27. April 2014 ist Junya Ishigamis Ausstellung „How Small? How vast? How architecture grows?“ im Ausstellungshaus arc en rêve centre d’architecture in Bordeaux zu sehen.
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