My Cactus is bigger than yours
Plastic fantastic! Warum die Gufram-Ikonen mit ihrer Sechziger-Jahre-Ironie noch heute so aktuell sind.

Mit der Ästhetik der Ironie, der Irritation und der Pop Art spielen die Möbel und Produkte des italienischen Designunternehmens Gufram. In Mailand zum Salone 2015 zeigen sie weiche Lippen, auf die man sich setzen kann oder bunte Riesenkakteen mit Stacheln aus Gummi. Zwischen 3.000 und 5.000 Euro kostet so ein Kaktus, die Objekte sind handgefertigt und stets nur in geringer Stückzahl erhältlich.
Design muss nicht immer ernst, schön oder kritisch sein – es kann auch mal über die Stränge schlagen, darf irritieren. Verglichen mit den Entwürfen, die sonst auf einer Möbelmesse präsentiert werden, ist die Gufram-Sammlung so ziemlich das komplette Gegenteil – wenn man sich beispielsweise den „Nendo-Tempel“ anschaut, die sakrale Retrospektive des japanischen Designers im Mailänder Museo della Permanente. Und zum großen Teil sind es auch alles andere als Neuheiten, vielmehr bewährte Klassiker und Ikonen der jüngeren italienischen Designgeschichte, die Gufram nun in einer neuen Farbe noch einmal aufgelegt hat. Entscheidend ist das Einzigartige, Unverwechselbare und – wenn auch nicht auf den ersten Blick – die Handarbeit. Außerdem gilt: Bocca, Pratone und der legendäre Cactus – ihr ursprünglicher Entwurf stammt bereits aus dem Jahr 1972 – machen Spaß. Langweilig sind andere.
Pop Art Design – Made in Italy
Anfang, Ursprung und Sitz vom Familienunternehmen Gufram findet man in Barolo, keine 70 Kilometer südlich von Turin. Die Region südwestlich der Trüffelstadt Alba im Piemont ist vor allem als Italiens vornehmstes Weinanbaugebiet bekannt. Hier, inmitten der norditalienischen Idylle, wird 1952 das Möbelunternehmen Gufram gegründet. Der Name leitet sich aus einem Akronym ab. Gufram steht für GUgliermetto (so der Name der Gründer) FRatelli (es waren drei Brüder) Arredamenti (Einrichtung) und Moderni (modern). Die Familie spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie Möbeldesign und Moderne – die Avantgarde. Dass daraus gleich eine eigene Kakteenzucht entstehen sollte, damit hätten wohl auch die Brüder Gugliermetto Anfang der fünfziger Jahre eher nicht gerechnet.
Aufbruch und Untergang
Gufram produziert seit 1966 seine eigenwilligen Designikonen. 1966, das ist das Jahr, in dem Italien gerade das zwanzigjährige Bestehen der noch so jungen Repubblica Italiana feiert. England wird Fußballweltmeister, die Bundesrepublik Deutschland unterstützt den Vietnam-Krieg der Vereinigten Staaten und vergibt zum ersten Mal die Goldene Kamera. Den französischen Frauen wird 1966 eine juristische Gleichberechtigung zugesichert, und auch der Schweizer Kanton Basel führt das Frauenwahlrecht ein, während der Kanton Zürich in einer Volksabstimmung gegen das Frauenwahlrecht stimmte. Brigitte Bardot heiratet den Kunstsammler Gunther Sachs, in San Francisco treten die Beatles zum letzten Mal gemeinsam auf. Es war ein Jahr des Aufbruchs und des Untergangs.
„We Don’t Need No Design Control“
Die Rahmenbedingungen waren also wahnsinnig genug. Als Ende der sechziger Jahre die zu dieser Zeit noch unscheinbare Möbelmanufaktur Gufram freie Kapazitäten hat, widmen sich die Brüder Gugliermetto der Produktion grotesker Ideen. Sie beauftragen junge Designer aus Turin, die mit dem neuen Material Polyurethan experimentierten – darunter auch Franco Mello und Guido Drocco. Ihr 1,70 Meter großer Kunststoffkaktus ist Ironie pur, die Garderobe Cactus sollte 1972 im Rahmen der Gufram-Kollektion I Multiple mit anderen limitierten Designobjekten aus Kunststoff vorgestellt werden, die in den Schaufenstern der Möbelhändler eine wahre Sensation darstellten. Mit Siedi-Tee von Laura Fubini, Francesco Mansueto und Marco Verrando brachte Gufram einen Hocker in Form eines übergroßen Golfballs aus Polyurethan auf den Markt; das leuchtend rote Sofa Bocca aus kalt geschäumtem Polyurethan vom Turiner Studio 65 ist einem verlockenden Kussmund nachempfunden, während sich das majestätische Sitzobjekt Capitello (ebenfalls Studio 65) als abgeschlagenes Kopfteil einer griechischen Säule ionischer Ordnung tarnt. Parallel zu diesen neuen Ikonen des Popdesigns bricht in Italien die Postmoderne aus.
„My Cactus Is Bigger Than Yours“
Die Gufram-Klassiker leben munter weiter – obwohl der Name Gufram international weniger bekannt ist. 2015 wurden unter dem Titel Pop Art Design zum Salone del Mobile in Mailand limitierte Editionen der über 40 Jahre alten Designikonen vorgestellt. Zusätzlich haben Designer wie Karim Rashid oder Ross Lovegrove neue Produkte entworfen, die eine ähnliche Sprache sprechen.
In Kooperation mit dem Kunstmagazin Toiletpaper ist 2014 unter dem Titel Toiletpaper God eine Neuauflage des Cactus entstanden, der in Begleitung von zwei Riesen-Eiern aus Polyurethan die Grenze des Grotesken elegant überschreitet. Auch die rosafarbene, angebissene Toiletpaper Soap oder das makabre Sitzmöbel Toiletpaper The End entsprechen ebenfalls ganz der sonst so skurrilen Bildgewalt des italienischen Fotografen Pierpaolo Ferrari und des Künstlers Maurizio Cattelan von Toiletpaper. Cattelan sorgte zum Beispiel 2001 mit seiner Installation Him für Aufsehen, eine kindlich, unschuldig wirkende und fromm kniende Skulptur von Adolf Hitler. Kunst kennt keine Grenzen. Ähnlich mutige Formen der Grenzüberschreitung dürften auch ein Grund sein, dass das „Anti-Design“ der Gebrüder Gugliermetto noch heute ein Erfolg ist.
Alle Beiträge aus unserem großen Themenspecial Salone 2015 lesen Sie hier.
FOTOGRAFIE Gufram
Gufram
Gufram
www.gufram.itToiletpaper Magazin
www.toiletpapermagazine.orgSalone del Mobile 2015
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