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Shades of Green

Nachhaltige Spurensuche auf der Mailänder Möbelmesse 2022

Von der Forschung mit alternativen, pflanzenbasierten Materialien bis hin zur zirkulären Wertschöpfung: Für viele Nachwuchsdesigner*innen ist das aktive Mitgestalten der grünen Wende eine Herzensangelegenheit. Was aber hatten die etablierten Player der Möbelbranche in Sachen Nachhaltigkeit bei der Milano Design Week 2022 im Gepäck? Wir haben uns in den Messehallen und in den Showrooms der Stadt umgeschaut.

von Kathrin Spohr, 06.07.2022

Pressefrühstück bei Tom Dixon im Palazzo Serbelloni: Dieses Mal gab es kein exquisites Büfett mit feinster Patisserie und tropischen Früchten, sondern Pflanzentees, getrocknete Beeren und Müslikekse. Minimaler Food-Futurismus ohne jeglichen Abfall – kunstvoll kuratiert und präsentiert vom Studio Arabeschi di Latte. Was zunächst für Verwunderung sorgte, entpuppte sich als perfekter Vorgeschmack auf Dixons aktuelle Nachhaltigkeitsprojekte, die er während der Milano Design Week 2022 vorgestellt hat.

Möbel aus Biomaterialien
Tom Dixons Experimente mit biologischen Materialien haben zu Upgrades bekannter Möbel geführt: So ist der Stuhl Fat nun mit einem neuen Schaumstoff aus Pilzmyzel erhältlich. Und die Sitzfläche der Liege Bird lässt sich auch aus dänischem Seegras fertigen. Besonders spannend ist das Projekt Biorock, das auf einer Idee des Wissenschaftlers Wolf Hilbertz basiert und das Wachsen von Möbeln in einer Aquakultur, also unter Wasser, ermöglicht.

Auch bei Artemide hat Naturforschung zu einer Neuheit geführt: Die Leuchte Veil von BIG – Bjarke Ingels Group – ist mit einem zu 100 Prozent biologisch abbaubaren Diffusor ausgestattet. Die dafür verwendeten Stoffe stammen ausschließlich aus Fasern, die in der Natur vorkommen und durch rein mechanische Verfahren, also ohne chemische Prozesse, gesponnen werden.

Verborgene Qualitäten
Nicht nur das Experiment mit alternativen Materialien scheint mittlerweile bei einigen etablierten Designmarken zum guten Stil zu gehören, auch das Nutzen recycelter Werkstoffe für die industrielle Produktion wird langsam salonfähig: Konstantin Grcics Bell Chair besteht beispielsweise aus den Abfällen der Produktion des Möbelherstellers Magis und der lokalen Automobilindustrie und ist zu 100 Prozent recycelbar. Der Stuhl wurde bereits 2020 entworfen, doch coronabedingt erst in diesem Jahr auf der Möbelmesse präsentiert.

MVRDV hat für Delta Light eine neue Leuchtenserie aus Reste-Aluminiumprofilen entwickelt. „Das Projekt begann mit der Frage, ob wir mit dem Abfallmaterial von Delta Light neue Möglichkeiten entwickeln könnten, anstatt ein Produkt völlig neu zu gestalten“, sagt MVRDV-Gründungspartner Jacob van Rijs. Bei einem Besuch in der Fabrik des Unternehmens kam die Idee. Dort gab es Rohmaterialien, Komponenten, Kabel, Schrauben, Verschlüsse, Verpackungen – alles, was zu einer Leuchte gehört. „Vor allem die Stapel von Aluminiumprofilen in verschiedenen Weiß-, Silber-, Schwarz- und Goldtönen waren eine Quelle der Inspiration. Die erstaunlichen Details dieser Profile sind normalerweise in der Wand oder Decke verborgen. Wir wollten ihre Schönheit als Hauptmerkmal des neuen Designs sichtbar machen.“

Cleveres Upcycling
Upcycling stand während der Möbelmesse auch bei der spanischen Teppichmanufaktur Nanimarquina auf dem Programm: Re-Rug heißt die neue Kollektion, die aus Wollresten hergestellt wird. Ein langer Forschungsprozess war nötig, um aus diesen Abfällen ein für das Weben geeignetes Garn zu entwickeln. Für jeden Re-Rug wird nun etwa ein Kilogramm wiederaufbereitete Wolle pro Quadratmeter verwendet, was dazu beiträgt, den Abfall zu verringern und die CO2-Emissionen zu reduzieren.

Nachhaltige Kaffeekultur
Kartell hat mit Re-Chair einen Stuhl lanciert, dessen Name ebenfalls Programm ist, und nutzt dafür Abfallprodukte der Lebensmittelbranche: Entworfen von Antonio Citterio in Zusammenarbeit mit illycaffè wird er aus nicht nutzbaren Kapseln – Ausschussware – des illy-Kaffees Iperespresso hergestellt. Kartell hat eigens einen Zyklus entwickelt, um das Material zu zerkleinern und in Form von Granulat wiederzugewinnen, um es dann im Rotationsverfahren neu zu formen.

Hohe ästhetische Qualität
Es stellt sich die Frage: Werden gebrauchte Materialien zum Rohstoff der Zukunft? „Für uns ist es heute selbstverständlich, mit recyceltem Material zu arbeiten. Alle Produkte sind Greenguard-zertifiziert“, erklärt Claudio Luti, Geschäftsführer bei Kartell. Mit Kollektionen wie Bio, Riciclato, Smart Wood, A.I. und jetzt dem Re-Chair übernimmt ausgerechnet der Hersteller, der Designprodukte aus Kunststoff groß herausgebracht hat, eine Vorreiterrolle in Sachen Nachhaltigkeit. „Durch die Verwendung recycelter Materialien wird ein virtuoses System aktiviert, das die Umwelt von Abfällen befreit und diese zu neuen Rohstoffen macht. So wird ein Prozess der Kreislaufwirtschaft in Gang gebracht. Dies ist der Weg, den wir künftig beschreiten“, meint Luti.

Laufsteg neuer Materialien
Passend zu der Thematik präsentierte der Salone del Mobile 2022 die umfassende Sonderausstellung Design with Nature, konzipiert von Mario Cucinella. Der Designer hatte eine organisch geformte, riesige Ausstellungsarchitektur aus Holz entwickelt, die gleichzeitig als Sitzmöbel diente und einen Buchladen sowie ein Café integrierte. Cucinella – Spezialist in Sachen Nachhaltigkeit mit eigener „School of Sustainability“, kurz SOS – belegte dort auf 1.400 Quadratmetern, dass es bereits jetzt genügend ökologische Materialalternativen für die Einrichtungs- und Bauindustrie gibt. Diese können auch in industriellem Maßstab hergestellt werden – von Schalldämmplatten aus Pilzmyzel und Stoffabfällen oder Zellulosefasern bis hin zu recyceltem Kunststoff oder Polyurethan. Was die Ausstellung ebenfalls zeigte: Nachhaltigkeit ist komplex.

Nachhaltigkeit ohne Bühnenpräsenz
Es ist jedoch bedauerlich, dass diese interessante Ausstellung im hinteren Bereich der letzten Messehalle platziert wurde. Generell fällt auf: Während noch im September 2021 auf dem von Stefano Boeri konzipierten Supersalone das Thema „Sustainability“ zur Chefsache erklärt wurde, wirkte der Salone del Mobile 2022 in Sachen Nachhaltigkeit wie ausgebremst. Im Herbst angekündigt waren große Maßnahmeschritte wie Messestände, die auf einem einheitlichen und wiederverwendbaren Systemkonzept basieren sollten. Außerdem ging es beim Supersalone noch um eine Gesamtinszenierung, die den grünen Ansatz überall spürbar machen wollte – auch ganz plakativ durch echte Bäume, die überall die Messehallen schmücken und später nach draußen verpflanzt werden sollten.

Verschwenderische Messearchitektur
All das Umwelt-Engagement der Messe war in diesem Jahr nicht sichtbar. Obwohl der Salone inzwischen dem UN Global Compact der Vereinten Nationen beigetreten ist, der weltweit wichtigsten Initiative für unternehmerische Nachhaltigkeit. Obwohl die Anmeldung zur Zertifizierung des nachhaltigen Eventmanagementsystems ISO 20121 läuft. Obwohl die Aussteller – nach Aussage der Messe – „um eine konkrete Verpflichtung ersucht wurden, ihre Messestände unter Beachtung einiger grundlegender grüner Richtlinien zu gestalten und zu realisieren.“ Sprich: Materialreduktion, der Einsatz wiederverwendbarer, nachhaltiger Materialien, Berücksichtigung der logistischen Nachhaltigkeit der Beschaffungsquellen und viele weitere Aspekte. Eine solche nachhaltige Revolution im Bereich der Messearchitektur war auf dem Salone 2022 nicht sichtbar. Im Gegenteil. Die Messestände waren wieder verschwenderisch und üppig gestaltet – so wie vor der Pandemie – und erweckten nicht den Eindruck, dass strenge Vorgaben vonseiten der Messe die Hersteller zu einer ressourcenschonenden Präsentation inspiriert haben.

Luft nach oben
Auf dem Salone 2022 war Nachhaltigkeit noch längst nicht das „neue Normal“, auch wenn die Materialvoraussetzungen dafür geschaffen sind. Es gab natürlich viele Grünnuancen – vor allem beim Produktdesign mit innovativen Materialien. Im Bereich der Messepräsentation und -kommunikation gibt es jedoch noch viel Diskussionsbedarf und Optimierungspotenzial.

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