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Revival im Raster

Quadratische Fliesen erobern die Interiorwelt

Die Fliese ist keine Alternative zum Teppich. Sie ist seine ästhetische Antithese. Zuletzt taucht sie dennoch allerorten wieder auf und zeigt, dass sie auch ohne Gemütlichkeit als Qualität maximale Wirkkraft hat. Fliesen sind ein beliebtes Element, um in Wohn- und Retailprojekten konsequente Welten zu erschaffen. Wir stellen aktuelle Interiors vor, die sich beim Format auf den Baumarktstandard besinnen und damit für extravagante Effekte sorgen: Juweliergeschäfte, Burger-Läden und Spas sehen plötzlich aus wie Schwimmbäder.

von Tanja Pabelick, 04.10.2021

Badezimmer, Küche und Flurbereiche sind traditionelles Fliesenrefugium. In den letzten Jahren ist allerdings eine Ausweitung der Fliesenzone zu beobachten. Als Oberflächenlösung machen die kleinen Quadrate vor nichts mehr Halt: Sie bekleiden Böden und Wände im Wohnbereich, ziehen in Shops und Restaurants, werden zum Finish auf Mobitekturen oder auf Möbeln wie Regalen, Tischblöcken und Sitzquadern.

Rückkehr der Fuge
Lange wurden Fliesen wegen ihrer grafischen Vielseitigkeit geschätzt. Sie brachten mit Mustern bemalt mediterranes Flair in den Raum oder als edles Steinzeug Grandezza im Großformat. Kaum sichtbare Plattengrenzen täuschten vor, dass Wände und Böden aus einem Guss sind. Aber: Die präzise Fuge eines Fliesenspiegels ist mittlerweile wieder eine eigene Qualität. Es ist das orthogonal gerasterte Muster einer monochromen Welt, die vom Boden bis zur Decke reichen kann und Monotonie mit fröhlichen Farben neutralisiert.

Keramischer Normcore
Man könnte den Trend als eine Rückkehr zum Standard bezeichnen. Als Stilelement findet sich keramischer Normcore in immer mehr Projekten. Dazu gehören Metrotiles, die man eigentlich aus der U-Bahn kennt – jetzt hängen sie in Küchen, Coffeeshops und Badezimmern und bringen durch ihr erhabenes Relief dreidimensionale Strukturen mit. Ihr nächster Verwandter ist die quadratische Flachfliese: Sie ist ein Archetyp. Mit ihrer Größe von zehn mal zehn oder fünfzehn mal fünfzehn Zentimetern kennen wir sie aus Sportumkleiden und Hallenbädern, Fleischereien oder Laboren. Gefragt war sie eigentlich immer dort, wo es wischfest, allergikerfreundlich und hygienisch zugehen musste.

Werden die hyperfunktionalen Fliesenspiegel jetzt im gleichen Stil anderweitig eingesetzt, ist das immer auch eine Reminiszenz an die Orte unserer Jugend, die weitestgehend ausgestorben sind. Um dabei aber nicht ein Zitat zu bleiben, bedienen sich viele Interiordesigner*innen eines Tricks: Sie setzen auf Farbe. Denn klinisch wirken Fliesen nur in Weiß. Zarte Pastellnuancen beispielsweise erzählen von den Fünfzigern und kräftige Ton-in-Ton-Welten erinnern an die Siebzigerjahre, in denen man sich noch getraut hat, ein Badezimmer in einen konsequenten Farbrausch zu versetzen.

Der Shop, der denkt, er sei ein Pool
„Kosmopolitische und malerische Orte wie Mykonos neigen dazu, zwischen starrer Tradition und erzwungener Extravaganz gefangen zu sein“, erklären die beiden Kreativstudios, die die Gestaltung des Juweliergeschäftes Gavello nel Blu verantworten. Sie bleiben mit ihrem Konzept konsequent in der thematischen Welt des Standortes Mykonos, überwinden dabei aber alle gängigen Konventionen eines Retail-Interieurs. Wer die surreale Welt von Saint of Athens und Dive Architects betritt, landet direkt im natürlichen Habitat azurblauer Fliesen: einem Pool. Eingefangen wird damit die Ferienstimmung der Inselurlaubenden. Strandbälle, rot-weiß gestreifte Polster, Badespinde und eine zur Decke führende Poolleiter erschaffen eine surreale Welt à la David Hockney. Die Schmuckstücke liegen darin wie auf den Grund gesunkene Schätze und werden auf farbig passenden Kegeln, Wandhaken und Spiegeln sowie in Vitrinen, die an Aquarien erinnern, präsentiert. Die Fliesen sind dabei die wichtigste Requisite der überzeugenden Inszenierung, in die Passierenden fast magisch hineingezogen werden.

Der Burger-Joint, der baden geht
Das spanische Büro Masquespacio, gegründet von Ana Hernández und Christophe Penasse, begab sich für das Bun-Restaurant nach Turin in Italien, um amerikanischen Fleischbrötchen ein effektvolles Ambiente zu erschaffen. Drei große Fenster wurden zur visuellen Schleuse zwischen Ladengeschäft und urbanem Kontext – und zur Bühne, um die Gäste für das Konzept zu interessieren. In jedem Fenster inszenierten die Gestalter*innen eine eigene, monochrome Farbwelt. „Die Idee, in jedem Fenster mit nur einer Farbe zu spielen, sorgt draußen für einen visuellen Effekt, der Betrachter*innen von einer Welt in die andere wandern lässt, der sie durch verschiedene Erlebnisse in einem Raum reisen lässt“, erklärt Ana Hernández. Bestellt wird im grünen Bereich, in der rosafarbenen und der blauen Zone wird gesessen und gegessen. Wer sich im fleischfarbenen Universum niederlässt, kann sich in erhöht platzierte Abteile zurückziehen, die mit viel Gold, Bogenportalen und brusthoch gekachelten Wänden auch aus einem Wes-Anderson-Streifen stammen könnten. Das blaue Areal ist ein thematischer Mikrokosmos, der vom Rest abgeschlossen funktioniert. Es simuliert einen blauen Pool unter einer sich kräuselnden Spiegeldecke. „Hier hat man das Gefühl, im Wasser zu schweben“, sagen die Designer*innen. Auch hier wurde wieder gekachelt: Die quadratischen Standardfliesen sind eines der Elemente, die die drei Bereiche trotz der farblichen Divergenz harmonisch zusammenführen.

Das Spa, das alles in die Schwebe bringt
Das Origin Spa in Genf ist ein Beispiel dafür, wie sich die Raumgrenzen in dem regelmäßigen Raster eines über Boden und Wände reichenden Fliesenspiegels auflösen können. Das räumliche Konzept des Teams vom Studio Bureau greift damit das inhaltliche auf: Hier kommen die Gäste beim Floaten ins Schweben. Das physische Zuhause der Badekapseln soll den inneren Prozess reflektieren, der durch das Liegen im stark gesalzten Wasser ausgelöst wird. „Wir haben Farben vorgeschlagen, die alles, was ihnen begegnet, einhüllen“, erzählen die Designer*innen. Mit ihren Pastellnuancen bringen sie den Raum in einen nahezu ätherischen, abgehobenen Zustand. Dazwischen stehen, lose verteilt, einzelne Grünpflanzen, die in diesem Ambiente so wirken, als hätten sie gerade als Pioniere einen fremden Planeten besiedelt. In dieser abstrakten Realität landen auch die Besucher*innen nach der Reise in ihr Inneres. „Es ist die poetische Interpretation einer Welt, in der man sich ausruhen und fantasieren kann, die anregend ist und dabei sowohl abstrakt als auch greifbar“, erklären es die Gestalter*innen von Bureau. Oder kurz: Es handelt sich um Poesie in Pastell.

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Links

Gavello nel Blu

Saint of Athens

www.saintofathens.com

Gavello nel Blu

Dive Architects

www.divearchitects.com

Bun Burgers Turin

Masquespacio

www.masquespacio.com

Origin Spa

Bureau

www.bureau.ac

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