50 Jahre Mondlandung: Richtungswechsel im Design
Wie die Mondreise das Design beflügelte.

Am 21. Juli 1969 um 3:56 Uhr mitteleuropäischer Zeit betraten Neil Armstrong und Buzz Aldrin den Mond. Es war ein globales Medienereignis. Die Hälfte aller Sendestationen war live zugeschaltet. Vor den Fernsehgeräten verfolgten 500 bis 600 Millionen Zuschauer die ersten Schritte auf dem Erdtrabanten. Am kommenden Sonntag nähert sich zum 50. Mal der Termin, der auch in der Gestaltung Spuren hinterließ.
Die Raumfahrt war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren weit mehr als ein wissenschaftliches Phänomen. Während die Weltmächte und Systeme um die Vorherrschaft im Weltall rangen, beflügelten sie sogar den Alltag auf der Erde. Entwürfe von Verner Panton, Joe Colombo, Luigi Colani, Eero Saarinen, Eero Aarnio, Pierre Paulin oder Oliver Mourgue schienen der Schwerkraft enthoben zu sein. Sie wirkten wie die perfekten Utensilien für ein Leben an Bord einer Raumstation – und führten die technischen Möglichkeiten der neuen Kunststoffe dabei eindrucksvoll vor Augen.
Wohnen im Modul
Die Mondlandung war nicht der Anfang dieser Entwicklung, sondern markierte ihren Höhepunkt. Eindrucksvolle Space-Age-Räume haben Joe Colombo mit der Visiona 1 und Verner Panton mit der Visiona 2 geschaffen: Vom utopischen Geist der Raumfahrt bestimmte Wohnsituationen, die im Auftrag des Chemiekonzerns Bayer während der Kölner Möbelmesse 1969 und 1970 gezeigt wurden. Joe Colombo überwand die traditionelle Raumaufteilung in Wohnzimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Esszimmer, Küche oder Bad. Stattdessen begriff er die Wohnung als einen Open Space mit mehreren freistehenden Kapseln, die wie die Module einer Raumstation einzelnen Funktionen zugewiesen wurden. Der Aspekt der Dynamik wurde gleich in doppelter Hinsicht erfüllt: Zum einen waren die Kapseln durch drehbare, verschiebbare oder klappbare Elemente veränderlich. Zum anderen konnten sie auf Rollen gedreht und frei durch den Raum geschoben werden, sodass der Wohnraum niemals statisch war.
Der Idee der Veränderlichkeit folgten auch Möbelentwürfe wie der Tube Chair, den Colombo 1968/1969 für Flexform entwarf und der heute von Cappellini produziert wird. Das Möbel besteht aus vier Röhren mit unterschiedlich großen Durchmessern, die mithilfe von seitlich aufgesteckten Metallklammern verbunden werden. Durch einen simplen Handgriff können sie gelöst und in neuer Kombination wieder zusammengesteckt werden. Bereits ein einzelner Sessel mit vier Röhren erlaubt 16 unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten. Zieht man einen zweiten Tube Chair hinzu, ergeben sich 64 mögliche Varianten, die vom erhöhten Sitzen wie auf einem Stuhl bis hin zu einer entspannten Liegeposition in Bodennähe reichen.
Joe Colombo hat das Design als eine übergreifende Gestaltungsaufgabe gesehen, die über das Entwerfen einzelner Problemlösungen oder die Einrichtung von Innenräumen hinausgeht. Mit der Wohnkapsel entwickelte er eine Art Mikroarchitektur, die als ein Raum im Raum von der vorhandenen baulichen Umgebung unabhängig ist. Die Idee wurde auch von anderen verfolgt: In Tokio realisierte der Architekt Kisho Kurokawa mit dem Nakagin Capsule Tower (1970-1972) eines der wenigen tatsächlichen gebauten Beispiele für Kapsel-Architektur. Um zwei große Betonkerne wurden 140 vorgefertigte Wohnkapseln per Kran gehangen. Mit ihren markanten kreisrunden Fenstern sowie den in die Wände integrierten Möbeln und Elektrogeräten wirken die Wohnungen tatsächlich wie kleine Raumschiffmodule, die den Weg auf die Erde gefunden haben.
Sinnliche Höhle
Auch Verner Pantons Wohnlandschaft für die Visiona 2 offenbarte ein grundlegend neues Raumverständnis, bei dem die Grenzen zwischen Wand, Decke und Boden überwunden wurden. Die Transparenz gläserner Fassaden, mit der seit dem Bauhaus die Trennung zwischen Innen- und Außenraum überwunden werden sollte, verschwand. Die Wände wurden nun geschlossen und die dadurch abgedunkelten Räume wie Bühnen mit Licht und Farbe emotional inszeniert. Der Raum wurde zum Möbel, das Möbel zum Raum. Der Bezug zum Gefühl der Schwerelosigkeit im Weltall könnte kaum passender inszeniert sein.
Aufgrund der expressiven Farbgebung, die vor allem warme Farben wie Rot oder Orange vor kühlen Blau- oder Violetttönen hervorhebt, entstand der Eindruck einer kuschelig weichen Höhle. Sie versprach Geborgenheit und weckte Assoziation zum Mutterleib. „Der Mensch ist rund, sein Urzustand ist der intrauterine. Im Uterus der Mutter liegt der Mensch in warmer, gerundeter Form. Diese Position sollten wir in seinem Wohnen, Wohneinheiten, seinen zukünftigen Lebensräumen nicht vernachlässigen“, forderte Luigi Colani 1971 in einem Fernsehinterview mit dem WDR.
Kaum ein Gestalter konnte sich zu Beginn der Siebzigerjahre den neuen Kunststoffen entziehen, die scheinbar endlos zur Verfügung standen und die privaten Haushalte mehr und mehr durchdrangen. Doch als die OPEC – Organisation erdölexportierender Länder – 1973 eine drastische Drosselung der Fördermengen beschloss und damit die erste Ölkrise auslöste, platzte der Traum. Die Forderung nach einer Abkehr von fossilen Materialien und Energieträgern wurde auch durch die Erfahrungen der Mondladung verstärkt: „Die Agenda der Vierziger- bis Sechzigerjahre war: Wir werden auf einem anderen Planeten leben. Das bedeutet hinaufzuschauen, positiv zu denken, sich neue Technologien vorzustellen und Gefallen zu finden an Geschwindigkeit und Veränderung“, sagt Karim Rashid.
„Doch was passierte 1969? Armstrong landete auf dem Mond und mit einem Mal stellten wir fest: Er ist nichts weiter als ein toter Felsen. Wir wussten fortan: Wir können nirgendwo anders hingehen. Das führte dazu, dass wir uns in den Siebzigerjahren wieder auf die Erde konzentriert haben und erkannten: Wir müssen auf diesem Planeten bleiben. Er ist das einzige, das wir besitzen“, so der New Yorker Designer weiter. Die Mondladung war also beides: Ein Symbol des Aufbruchs, des Größenwahns, des Übermaßes. Und doch hat sie zugleich den Grundstein gelegt für eine Fokussierung auf Nachhaltigkeit und Ökologie. Oder um es mit Neil Armstrong zu sagen: Ein kleiner Schritt für einen Menschen. Ein großer Schritt… naja, Sie wissen schon.
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