Century of the Child: Growing by Design
Bauklötze staunen kann der Besucher im Museum of Modern Art. In New York haben sich zurzeit versammelt: Legosteine, Zauberwürfel, Roboter, Stahlrohr- und Bugholzmöbel im Miniaturformat – allesamt entstanden im Lauf des letzten Jahrhunderts. Über 500 Objekte haben die Kuratorinnen der Ausstellung Century of the Child: Growing by Design, 1900-2000 zusammengestellt. Sie alle kreisen um ein Thema: Welchen immensen Einfluss das sich stetig verändernde Konzept von Kindheit auf die Kunst und Gestaltung des 20. Jahrhunderts hatten.
Gestaltung wird in dieser Ausstellung – die für sich in Anspruch nimmt, die erste umfassende zum Thema überhaupt zu sein – weit gefasst: Es geht um Stadtplanung, Architektur und Produktdesign, aber auch um Kunst, Mode und Fotografie. Auf der Spielfläche im sechsten Stock des Museums tummeln sich: Rudolf Steiner, Marcel Breuer, Bruno Taut, Jean Prouvé, Charles und Ray Eames, Frank Lloyd Wright.
Vom „neuem Kind“ zu einer besseren Welt
Um das komplexe Themenfeld für die Besucher zu erschließen, haben die Kuratorinnen Juliet Kinchin und Aidan O‘Connor die Ausstellung in sieben, an einer bestimmten Epoche orientierten Kapitel unterteilt. Vom „neuen Kind“ der Kindergarten-Bewegung (New Century, New Child und New Art) geht die weite Reise über die Avantgarde mit Bauhaus, De Stijl und Konstruktivisten (Avant-Garde Playtime) hin zur Licht-Luft- und Gesundheits-Propaganda der Zwanziger (Light, Air, Health), und auch die dunklen Kriegsjahre (Children and the Body Politic) werden nicht ausgespart. Es folgen: die (Wieder-)Entdeckung des Kindseins in den Fünfzigern (Regeneration), der Einzug des Marketings in den Achtzigern (Power Play) und die Vision einer Gestaltung für eine bessere Welt (Designing better Worlds) am Ende des Jahrhunderts.
Das gesamte 20. Jahrhundert in einer Ausstellung? Klingt nach Mammutaufgabe – ist es auch. Denn Design spiegelt doch immer auch die gesellschaftlichen Verhältnisse der jeweiligen Zeit. Deshalb werden in der Schau nicht nur Unmengen an unterschiedlichen Dingen präsentiert, sondern auch viele Fragen aufgeworfen, die alle um die Themen Kind, Erziehung und Gestaltung kreisen.
Das Kind als Kind
Das Jahr 1900 ist sozusagen die Geburt des Kindes, wurde das Kind nun erstmals als Kind und nicht als kleiner Erwachsener wahrgenommen. Es war eine Schwedin, die im selben Jahr das beginnende Jahrhundert als das der Kinder, ihrer Rechte, ihrer Entwicklung und ihres Wohlseins ausrief: Ellen Key. Mit ihrer bahnbrechenden Publikation Das Jahrhundert des Kindes propagierte die Sozialtheoretikerin und Feministin nicht nur einen sozialen, politischen und psychologischen Wandel in der Kindererziehung – sie bezog die Gestaltung ausdrücklich in ihre Reformideen ein.
Die Zeit um 1900 bis zum Ersten Weltkrieg wird in der ersten Ausstellungssektion thematisiert. Auf dem Weg in die Moderne entdeckten Designer eine neue visuelle Sprache – wie sie vor allem in Reformbewegungen wie dem Art Nouveau oder der Arts-and-Crafts-Bewegung zum Ausdruck kommt. Das Kind soll sich am kreativen Prozess erfreuen und intuitiv Materialien und abstrakte Formen entdecken. Neben dem Kalenderbilderbuch von Magda Mautner von Markhof und Lyonel Feiningers Comics sind es insbesondere Friedrich Fröbels Spiel- und Lernmaterialien, die im MoMA präsentiert werden. Der Pädagoge und Schüler Pestalozzis, dem die Eröffnung des ersten Kindergartens im Jahr 1840 zu verdanken ist, entwickelte die sogenannten pädagogischen Grundformen mit Kugel, Zylinder und Würfel, mit denen das Kind die Welt spielerisch erfahren und begreifen sollte.
Der unverstellte Blick
Die künstlerische Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre sah das Kind vor allem als Wesen mit noch unverstelltem Blick auf die ihn umgebende Welt. Deshalb gab es nicht wenige Künstler, die diese kindliche Wahrnehmung in ihr eigenes Schaffen zurückzubringen oder in kindgerechte Produkte zu übersetzen versuchten. Neben Kindermöbeln von viel beachteten Künstlern wie Giacomo Balla und Gerrit Rietveld konzentrieren sich die Kuratorinnen auf das in der Designgeschichte zuweilen vernachlässigte Werk von Frauen. Wie die fantasievollen Handpuppen von Sophie Täuber-Arp oder das Œuvre der Kunsthandwerkerin und Bauhaus-Schülerin Alma Siedhoff-Buscher beweisen. Letztere realisierte 1923 nicht nur ein Kinderzimmer für das Musterhaus Am Horn in Weimar, sondern im selben Jahr auch das Kleine Schiffbauspiel aus 32 farbigen hölzernen Spielsteinen. Ihre Idee: Vom Zimmer bis zum kleinen Baustein sollen Kinder einen ganzen Raum für sich haben. Bunte Farben und klare Formen helfen dabei, eine muntere Stimmung zu erzeugen.
Das Kind, der Krieg und der Konsum
Weniger bunt und munter, dafür erschreckend abgestumpft und brutal ging es in den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs zu. Die Propaganda-Maschinerie im faschistischen Italien, in Nazi-Deutschland und in der Sowjetunion (be)nutzte Kinder als Bildmotiv, sei es als visuelles Symbol für das Häusliche, die nationale Identität oder monströs-unrealistische Zukunftsvisionen. Exemplarisch stehen dafür in der Ausstellung Alexander Rodtschenkos Schwarz-Weiß-Fotografie eines Pioniermädchens und erschreckende Exponate wie mit Waffenmustern versehene Kinderkimonos aus Japan. Der straffen und unerbittlichen Erziehung und (Ver-)Formung in den Vierzigern entkommen, wandelte sich das Umfeld für Kinder nach dem Krieg grundlegend. Die Folgen von Brutalität und Zerstörung immer vor Augen, suchten viele Designer die verlorene Unschuld mittels Gestaltung wiederherzustellen. Kinder sollten beglückt werden mit schönen, sicheren und gewaltfreien Spielzeugen wie Kaj Bojesens Affen und Dackel aus Holz, kunterbunten Lego-Steinen oder putzigen Elefantensitzen aus Sperrholz von Charles und Ray Eames.
Die Baby-Boom-Jahre entdeckten das Kind als Konsumenten: Der Weg von Marketing und Werbung hinein in die Kinderzimmer nahm seinen Lauf. Es ist die Welt von Barbie, Astronauten und Nintendo. Und auch wenn manch einer das Digitale aus dem Kinderzimmer ganz heraushalten will: Eine Umkehr zurück zur anologen (Spiele-)Welt scheint eher unwahrscheinlich. Gut, dass es auch vorbildhafte Projekte wie One Laptop per Child gibt, die Kindern in Entwicklungsländern einen vergleichsweise günstigen Zugang zu Netz und Bildung ermöglichen.
Apropos Bildung: Die Ausstellung trägt eine bisher nie gesehene Fülle von Kunstwerken, Objekten und Ideen zum Thema Kind und Gestaltung zusammen. Sie hält uns vor Augen, welche gesellschaftlich wichtige Funktion Kinder über das gesamte 20. Jahrhundert eingenommen haben, nicht nur gestalterisch. Wer sich für dieses Themenfeld interessiert, für den ist Century of the Child ein must see in diesem Herbst. Bewaffnet mit dem hervorragend recherchierten Katalog staunt manch einer am Ende dann vielleicht wirklich Bauklötze.
Weitere Informationen
Die Ausstellung Century of the child. Growing by design, 1900-2000 ist noch bis zum 5. November 2012 im Museum of Modern Art in New York zu sehen. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog und ein Reprint eines Bilderbuchs des russischen Autors Samuil Marshak und des Illustrators Vladimir Lebedev aus dem Jahr 1926 erschienen.
FOTOGRAFIE Museum of Modern Art
Museum of Modern Art
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