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Das Gefühl der Ermächtigung

von Norman Kietzmann, 24.07.2013


Kult auf zwei Rädern: Das Museum für angewandte Kunst in Wien (MAK) begibt sich anlässlich der internationalen Fahrrad-Konferenz „The sound of Cycling - Urban Cycling Cultures“ auf eine Reise durch die Geschichte des Zweirads. „Tour du Monde“ heißt die Schau mit 50 Fahrrad-Preziosen aus der Sammlung des Wiener Architekten Michael Embacher, die rollende Schönheiten mit Skurrilitäten vereint.


Das Fahrrad, so schreibt der britische Musiker und frühere Talking-Heads-Sänger David Byrne in seinen Bicycle Diaries, wirkt wie eine „Wahrnehmungsmaschine“. Die Umgebung saust nicht teilnahmslos an einem vorbei, sondern wird auf eine sinnliche und unmittelbare Weise erfahren. Die Erlebnisse, die der bekennende Fahrrad-Aktivist auf seinen Touren durch New York, Istanbul, Manila und Berlin gesammelt hat (die weitläufige Berliner Karl-Marx-Allee rief bei ihm das „begleitende Gefühl eines idealistischen, utopischen, unendlichen Himmels“ hervor), bilden den roten Faden durch die Ausstellung „Tour du Monde“, die derzeit im Museum für angewandte Kunst (MAK) in Wien zu sehen ist.

Leichtigkeit und Komfort


Mehr als 210 Fahrräder trug der Wiener Architekt Michael Embacher seit 2003 zu einer der weltweit umfangreichsten Zweirad-Sammlungen zusammen, die sowohl Kinder-, Sport- und Freizeiträder bis hin zu Nutz- und Falträdern umfasst. Aufbewahrt auf einem Wiener Dachboden, sind die rollenden Preziosen zwar nicht öffentlich zugänglich. Doch Embacher nutzt seine Zweiräder neben dem eigenen Betrachten und Stauen durchaus für den täglichen Gebrauch und fährt bei seinen Baustellentouren gerne auf einem historischen Drahtesel vor.

Die 50 Räder, die derzeit im Wiener MAK zu sehen sind, geben nicht nur einen Einblick in mehr als 100 Jahre Fahrradgeschichte. Mit Modellen von Ron Arad, Marc Newson oder Richard Sapper wird ebenso die Affinität des Designs gegenüber dem Zweirad vor Augen geführt. „Obwohl beim Fahren enorme Kräfte wirken, sind Fahrräder in den meisten Fällen äußerst grazile und elegante Konstruktionen“, erklärt Michael Embacher den ästhetischen Reiz. Die Herausforderung für die Fahrradkonstrukteure besteht darin, diese beiden Gegensätze miteinander in Einklang zu bringen. Weil die Fahrer das Eigengewicht ihres Gefährts mit antreiben, steht Leichtigkeit an vorderster Stelle. Gleichzeitig müssen die Räder enorm stabil sein, um Fahrkomfort und Sicherheit zu garantieren.

Von Stahl zu Aluminium


Von konstruktiver Raffinesse waren die ersten Räder allerdings noch weit entfernt. Als der Franzose Pierre Michaux auf der Pariser Weltausstellung 1867 das erste von einer Tretkurbel angetriebene Zweirad präsentierte, bestand die Rahmenkonstruktion aus Holz. Lediglich die Reifen wurden aus Stahl gefertigt, sodass die Räder in England und den USA zurecht den Beinamen „boneshaker“ (Knochenschüttler) trugen. Eine Verbesserung kam erst dann in Sicht, als der Brite James Starley (1830-1881) die ersten Rahmen, Felgen und Speichen aus Stahl konstruierte und damit den Startschuss für den Leichtbau gab. Einen entscheidenden Schritt nach vorne bewirkte ebenso der Brite John Boyd Dunlop, dessen 1888 entwickelter Luftreifen die zuvor verwendeten, schweren Vollgummireifen ersetzte.

Vor allem in Frankreich entbrannte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Wettstreit unter den Konstrukteuren, das leichteste, robusteste und nicht zuletzt auch schnellste Rad zu bauen. Dass ab den fünfziger Jahren vor allem Aluminium zum Einsatz kam, war nicht nur der Verringerung des Gewichts geschuldet. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war Stahl in Frankreich derart rar, dass selbst im Automobilbau Aluminium verwendet wurde – lange bevor sich diese Bauweise auch auf internationaler Ebene etabliert hat.

Aus einem Guss

Als Rolls-Royce unter den Fahrradherstellern gilt bis heute die Manufaktur René Herse aus dem Pariser Vorort Levallois. Ihren Ruf verdanken die Konstrukteure ihrem Blick aufs Ganze. Anstatt lediglich einzelne Rahmen und Komponenten zu liefern, wurden die Räder stets aus einem Guss konzipiert. Wie ausgewogen die verchromten Bauteile aufeinander abgestimmt sind, zeigt das Modell Diagonale aus dem Jahr 1969, das neben einer dynamogetriebenen Beleuchtung auch über eine fest montierte Taschenlampe verfügt. Damit selbst bei einer durchgebrannten Glühbirne niemand im Dunklen fahren muss, wurde auch das Aluminiumrad Mecadural (1950) der Manufaktur Pélissier mit einem doppelten Frontscheinwerfer ausgestattet.

Nicht nur die Exponate, sondern ebenso die Ausstellungsgestaltung wurde von Michael Embacher beigesteuert. Anstatt die Räder auf starre Podeste zu platzieren, hängen sie von serpentinenartig geschlungenen Schienen von der Decke herab. Auch eine chronologische Reihenfolge wurde vermieden, um das breit gefächerte Spektrum des Fahrradbaus lesbar zu machen. Neben effizienten Modellen für den Profibereich befinden sich ebenso technologische wie konstruktive Fehltritte unter den gezeigten Rädern. Weit vorne auf der Skala der Unbrauchbarkeit rangiert dabei das Kunststoff-Rad Wilhelmina Plast Itera (1984) aus Schweden. Nicht nur, dass sich die Bauteile im Sommer erheblich verzogen und einen kontinuierlichen Schlingelkurs bewirkt haben. Auch wurde das in einzelnen Bauteilen zerlegte Rad oft unvollständig ausgeliefert, sodass fast alle Exemplare des altrosafarbenen Plastikrads reklamiert wurden.

Fortschritt im Leichtbau

Deutlich intelligenter sind Klappräder wie das Bickerton Portable aus dem Jahr 1971. Der Entwurf des faltbaren Aluminiumrads stammt von einem Rolls-Royce-Ingenieur, der zuvor seinen Führerschein verloren und nach einer adäquaten Alternative zum Automobil gesucht hatte. Auch wenn der Klappmechanismus einwandfrei funktionierte und das Rad im zusammengefalteten Zustand fast in einem Handschuhfach Platz fand, ließ es sich mit seinem weichen Lenker keineswegs einfach fahren. Selbst Entwickler Harry Bickerton stürzte mehrfach mit seinem Gefährt und sah sich genötigt, den Gebrauch lediglich „intelligenten Personen und keinen Gorillas“ nahezulegen.

Eine deutliche Weiterentwicklung der Zweiräder bewirkte der Einsatz von Karbon. Bereits Mitte der achtziger Jahre arbeite der britische Designer Mike Burrows an ersten Monocoque-Rahmen, die im NJC-Verfahren (No Joint Construction) ohne Nahtstellen in einem Stück hergestellt wurden. Die somit entwickelten Rahmen kamen sogar ohne eine diagonale Verbindung zwischen Lenker und Kurbel aus, wenngleich sie damit zunächst dem Reglement des internationalen Radsportverbandes UCI widersprachen. Erst als dieser 1992 eine Lockerung der Regeln bewirkte, wurde der Einsatz im Profibereich ermöglicht. Welche Effizienz die neuen Räder versprachen, wurde nur wenige Monate später bei den Olympischen Sommerspielen in Barcelona deutlich. Mit dem von Mike Burrows entwickelten Modell Lotus Sport 110 konnte der britische Radrennfahrer Chris Boardman gleich mehrfach Gold erstrampeln.

Rollende Pistolen

Dass Fahrradfahren weit mehr als sportlichen Rekorden dient, ist auch David Byrne überzeugt. „Es ist ein Gefühl der Ermächtigung, das einem das Rad gibt – ein Gefühl einer anderen Macht, als wenn man hinter dem Lenkrad eines 4-Tonnen-SUV sitzt. Es entspricht mehr der Macht von jemandem, der eine Pistole in der Hand hält, nicht eine wirklich persönliche tiefe, lang andauernde Macht, sondern eine vorübergehende, rohe Gewalt“, erklärt der britische Sänger. Wenn er im August wieder auf Tournee durch Europa zieht, muss sein Ranis-Rad (ausgestattet mit einer höher gesetzten Lenkstange und lackiert in einer Reflexfarbe) in seiner Wahlheimat New York bleiben. Doch er und mehrere Band-Mitglieder haben schon jetzt bekundet, ein faltbares Tern-Rad im Reisegepäck mit sich zu führen. Wer will schließlich schon auf seine Wahrnehmungsmaschine verzichten müssen?


Tour du Monde: Fahrradgeschichten

MAK – Museum für angewandte Kunst Wien
noch bis zum 06. Oktober 2013

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MAK Wien

www.mak.at

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