Stories

Der Maßstab der Dinge

von Stephan Burkoff, 19.07.2013

Die Designerin Jeannette Altherr aus Barcelona ist stets auf der Suche nach Sinnlichkeit. In ihrem privaten Hausbau findet sich die beste Antwort darauf, wie lebenswerter Raum im Dialog der Disziplinen Design und Architektur entsteht.

Das Design-Studio Lievore Altherr Molina hat sein Atelier auf dem Dach eines Bürogebäudes im Zentrum Barcelonas. Ein gewächshausartiger Aufsatz mit großen Fenstern bildet die inoffizielle sechste Etage eines imposanten Gründerzeitbaus. Hier treffen wir Jeannette Altherr, neben Alberto Lievore aus Argentinien und Manel Molina aus Spanien, eine der drei Partner des 1991 gegründeten Studios, um mit ihr über den Bau ihres privaten Hauses zu sprechen.

Eigentlich handelt es sich bei den Büroräumen über den Dächern der katalanischen Metropole um ein Provisorium. „Im Winter ist es zu kalt, im Sommer zu warm“, erklärt Jeannette bei einem Rundgang. In, durch Holzwände, zonierten Bereichen sitzen zehn Mitarbeiter unterschiedlichster Nationalitäten auf verhältnismäßig engem Raum und arbeiten an Möbelentwürfen, Präsentationen und interdisziplinären Projekten. Zu den Auftraggebern des Studios zählen Hersteller wie Foscarini, Poltrona Frau oder Thonet. Bekannt ist Lievore Altherr Molina auch durch Arbeiten für den italienischen Möbelhersteller Arper, für den das Studio nicht nur im Produktdesign tätig ist, sondern unter der Leitung von Jeannette Altherr seit fünf Jahren die Kreativdirektion und Kommunikation mitverantwortet. Das Designer-Trio betrachtet Produktdesign ganzheitlich. Ihren Entwürfen wird dabei oft eine geradezu skandinavische Ausgewogenheit und charmante Zurückhaltung attestiert. Ein gutes Beispiel hierfür könnte die kürzlich vorgestellte Stuhlserie Saya für Arper sein. Ihre Sprache ist Verdichtung, Funktionalität  – und im besten Sinne eine einfache, gefällige Ästhetik. Jeanette Altherr spricht lieber von Sinnlichkeit.


Keine Experimente


Es war der Höhepunkt der spanischen Immobilienblase, als sich die Designerin mit ihrem Mann Andrés, ebenfalls Produktdesigner, 2005 auf die Suche nach einem neuen Zuhause für sich und ihre zwei Kinder machte. Nach Besichtigung von gefühlten einhundert Objekten wurde deutlich, dass mit dem zur Verfügung stehenden Budget keine entsprechende Immobilie in der Stadt zu finden sein würde. Obwohl überzeugte Großstädter, entschlossen sich die beiden daher, ein passendes Grundstück zu suchen und am Rand der Stadt selbst ein Haus zu bauen. Als Designer sind es die Bauherren in spe gewohnt, mit ästhetischen Fragen umzugehen. Sie hatten deshalb eigene Vorstellungen, die sie umsetzen wollten. „Wir wollen kein Lebensexperiment eingehen, nicht revolutioniert werden, nicht von der Architektur überrascht oder in Frage gestellt werden. Wir wissen, wer wir sind und wie wir leben wollen“, erklärt Jeannette.

Um die Kosten zu reduzieren und um ihre eigenen Ideen realisieren zu können, wollten Jeannette und Andrés die Innenraumplanung weitestgehend selbst übernehmen. Der Wahl des Architekten kam damit eine besondere Bedeutung zu, sollte er sich doch auf eine Zusammenarbeit einlassen und nicht starr auf seinen Plänen beharren. Aus dem Freundeskreis kam der Tipp es mit Enrica zu versuchen – eine Empfehlung, der zu folgen sich lange vor dem Projektabschluss 2012 als richtig erwies.

Am Rande der Stadt


Mit 80 km/h zieht die sich ausdünnende Vorstadt am Autofenster vorbei, bis wir in den Bergen außerhalb Barcelonas ankommen. Die Vorderansicht des Hauses ist die Verkörperung japanischer Reduktion. Hinter einem obligatorischen Zaun, der allerdings nicht Einbrechern sondern den in der Gegend marodierenden Wildschweinen Einhalt gebieten soll, wirkt die versteckte Einfahrt und der einfache, schwarze, durch einen unscheinbaren Einschub und einen Balkon gebrochenen Block als pures Understatement. „Wir wollten nicht unseren kulturellen und sozialen Status repräsentieren, wünschten uns keine spektakuläre visuelle Geste, sondern eine Heimat für uns und unsere Dinge“, erläutert Jeannette.
Als der Hausherr Andrés uns am Pool hinter dem Haus empfängt, erklärt er, dass der Charakter des Grundstücks für das ganze Projekt ausschlaggebend gewesen sei. Es ist stark abschüssig und damit stand fest, dass das Haus mit verschiedenen Ebenen würde spielen müssen. „Da das Licht für uns so wichtig war, brachte Enrica uns dazu, über seine vielfältigen Qualitäten nachzudenken. Dass ein schönes Licht nicht unbedingt volle Sonne bedeutet. Wie man die Sonne, vor allem im Süden, dosieren muss, wie schön ein Wechsel des Lichts je nach Tages und Jahreszeit ist. Wir genossen es, unseren Blick dafür zu schärfen und weiterzuentwickeln“, erzählt Jeannette. Die Freiflächen und der Garten sollten von allen Ebenen und Räumen aus zugänglich und miteinander verbunden sein. Wie in einem Ferienhaus sollte man sich frei bewegen können und immer einen unkomplizierten Kontakt nach Draußen haben. „Als Fantasie kam mir ein Buch in Erinnerung über Picassos Villa Californie: ein Ort mit ständiger Ferienstimmung, ein Ort in dem man barfuß läuft, mit einem langen Sommer vor sich und Zeit, sich in das Spiel der Blätterschatten, die die Sonne auf die Wände zeichnet, zu versenken. Die Natur in Form von Garten, Terrassen, Ausblicken, Baumschatten auf den Wänden sollten Teil des unseres Lebens sein“.

Wie Schuhkartons stapeln sich nun die drei Ebenen des Hauses in den Hang. Das, was von der Straße aus betrachtet wie ein schwarzer, durch Holzraster flankierter Block vor einem liegt, wirkt von hinten betrachtet wie ein abwechslungsreiches kubistisches Spiel von Ebenen, Volumen und Flächen, dass Offenheit, Abwechslung und Großzügigkeit vermittelt. Eine üppige Bepflanzung mit regionaler Vegetation markiert den Randbereich der unteren Ebene zum Pool hin. Anders als von der Architektin vorgesehen, bestanden die Bauherren darauf, den oberen Abschnitt des Hauses schwarz zu streichen, während die unteren Köper einen hellen Ton tragen. Gebrochen und ergänzt werden die Flächen durch gräuliche Holzlamellen, die sich ebenfalls die Bauherren einfallen ließen. Das Ergebnis erinnert nicht zufällig an Japan: Dort hat sich Jeannette zu Farbtönen und Holzverkleidung inspirieren lassen.

Versteckte Details

Mit der Definition des Innenbereichs verschob sich vereinbarungsgemäß die Verantwortung vom Architekten auf die Bauherren. In der unteren Etage sind die Kinderzimmer, die Funktionsräume, das Elternschlafzimmer und zwei Badezimmer untergebracht. Alle bewohnten Räume verfügen hier über einen eigenen Zugang zum Garten und zur Terrasse und werden zum Flur hin mit Schiebetüren verschlossen. In die Wände der Flure eingelassene Schränke und Regale dienen als Stauraum. In der Planung der Einbauten spielte für die Designer die Funktionalität eine übergeordnete Rolle. Eine schmale Holztreppe mit frei zwischen den Wänden schwebenden Stufen steigt in die mittlere Etage auf, wo sich die großzügige Wohnküche und ein luftiges Wohnzimmer sowie der eigentliche Eingangsbereich des Hauses befinden. Von hier führt der nach oben in einen Lichtschacht mündende Treppenaufgang in die obere Etage, wo ein Gästezimmer und Andrés` Arbeitsraum untergebracht sind. In den Decken finden sich an verschiedenen Stellen eingelassene Lichter, die den Blick auf den blauen Himmel freigeben und für eine angenehme Lichtstimmung sorgen. Für Spanien völlig untypisch wurde ein Dielenfußboden verlegt.

Auf die Frage, wie das Thema der Sinnlichkeit auf Architektur zu übertragen ist, bekennt Jeannette: „Ich glaube, dass erst mal eine gewisse Großzügigkeit dazugehört, als Stimmung eher warm oder weich, entspannt, natürlich, unangestrengt. Im besten Fall ist ein spielerischer Aspekt dabei, der Möglichkeiten andeutet und entwicklungsfähig ist.“ Wie sich schon bei der Fassade gezeigt hatte, waren es oft die kleineren Details oder Nuancen, in denen die Ansichten der Parteien differierten.
 
Den Prozess der Planung beschreiben die Bauherren als Ping-Pong-Spiel mit der Architektin, in dem neue Ideen entwickelt, alte verworfen und individuelle Lösungen definiert wurden. Ursprüngliche Pläne der Architektin wurden durch kleine Veränderungen perfektioniert, wie ein um 90° gedrehter Küchenblock, eine zusätzliche Sichtachse, die quer durch die mittlere Etage verläuft und ein über dem Treppenschacht befindlicher Alkoven, der in eine clevere Schrankkonstruktion verwandelt wurde. Vorsprünge, Emporen und Ebenen wurden immer wieder hinterfragt und angepasst. Während der Architekt in Metern und Zentimetern denkt, zeigte sich, dass es Millimeter und kleinste Details sind, mit denen sich der Designer beschäftigt.

Auf dem letzten Meter


Der eigene Hausbau war für die Designer eine Auseinandersetzung mit völlig neuen Aspekten der Ästhetik. Was braucht ein Raum, damit er lebendig wird? Wie greifen Architektur und Design ineinander? Die Antwort darauf fanden sie in ihrer eigenen Familie, in ihren eigenen Interessen, in den Dingen, mit denen sie sich umgeben, in der Art, wie sie leben. Im ganzen Haus wimmelt es von kleinen Sammlungen, farbenfrohen, überraschenden Grüppchen von Gegenständen. Teils in Serien, teils als sich ergänzende Fragmente prägen sie den Raum durch ihr Wesen, ihre Materialität und ihre Kleinteiligkeit. Wie ein Setzkasten bietet das Interior einen perfekten Rahmen für diese Eigenheiten. Alles was die Designer mit ihrem Beitrag zum Haus geleistet haben war sprichwörtlich einen Raum für ihr Leben zu gestalten. „Damit ein Haus ein schönes Haus wird, müssen Umgebung, Behälter, Dinge und das Leben damit dicht aufeinander bezogen sein. Dafür gibt es keine Formel“, fasst Jeannette zusammen. Mit dem Haus, seiner Lage, seiner Ästhetik, der Einbindung in die Landschaft und nicht zuletzt der sensiblen Gestaltung der Innenräume haben sie ihr Ziel erreicht.

Wo Millimeter in Zentimeter übergehen und Zentimeter stimmig zu Metern werden, entsteht in ihrem Haus abseits Barcelonas Sinnlichkeit – in einem individuellen Maßstab der Dinge. „Jedes Mal wenn ich nach Hause komme empfinde ich dass alles stimmt.“
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Links

Lievore Altherr Molina

www.lievorealtherrmolina.com

Fusina 6

www.fusina6.com

BauNetz Woche #326

In den Ferien zuhause: der Hausbau aus Sicht der Architektin

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