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Design After Design: die XXI. Mailänder Triennale

Fokus auf die Gegenwart: Die XXI. Mailänder Triennale ist eröffnet. 

von Norman Kietzmann, 04.04.2016

Neustart einer Institution: Nach einer Unterbrechung von zwanzig Jahren ist am vergangenen Samstag, 2. April, die XXI. Mailänder Triennale eröffnet worden. Unter dem Titel Design After Design liegt der Fokus auf jenen Strömungen und Fragen, die Gestalter heute beschäftigen.

Nach der Schau ist vor der Schau. Viel Tamtam hatte im vergangenen Jahr die Mailänder Weltausstellung erzeugt, die trotz Rummelatmosphäre und reichlich Pleiten, Pech und Pannen über 21 Millionen Besucher anzog. Auch in diesem Jahr ist eine Expo zu sehen – wenngleich keine milliardenteure Materialschlacht, sondern die Wiederbelebung einer früheren Institution: die Esposizione Internationale della Triennale di Milano, die 1923 gegründet wurde und sich vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren als einflussreiche Leistungsschau des Designs etablierte. Die letzte reguläre Triennale fand 1996 statt. Nach einer deutlich abgespeckten Ausgabe im Jahr 2001 war erst einmal Schluss – bis das Konzept in diesem Jahr wiedererweckt wurde.

Dekodierung der Gegenwart
Design after Design lautet das Thema der XXI. Triennale, die noch bis 12. September in der lombardischen Hauptstadt zu sehen sein wird. Dass die Schau die Ziffer 21 trägt, ist der durchlaufenden Nummerierung früherer Triennalen geschuldet. Dennoch soll der Titel auch programmatisch verstanden werden: Nicht als Projektionsfläche für kühne Zukunftsvisionen, sondern als Auseinandersetzung mit all jenen Strömungen und Fragestellungen, die das Design der Gegenwart beschäftigen: vom Zusammenspiel von Handwerk und Hightech über die Verzahnung serieller und limitierter Produktion bis hin zur geografischen Erweiterung des Designkosmos über den europäischen Tellerrand hinaus.


Im gesamten Stadtgebiet
Als zentrale Spielstätte dient der Palazzo dell’Arte im Parco Sempione. Mit dem Hangar Bicocca, der Fabbrica del Vapore, dem Museo delle Culture, dem Veranstaltungszentrum Base Ex-Ansaldo, dem Museo Diocesano, dem Museo Nationale della Scienza, dem Politecnico, der Accademia di Brera sowie dem Palazzo della Permanente wird das Geschehen auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet. Als externe Spielstätte ist zudem die Villa Reale in Monza hinzu gekommen, mit der die Triennale zugleich zu ihren eigenen Ursprüngen zurückkehrt. Schließlich fanden die ersten Ausstellungen in eben jener königlichen Villa vor den Toren Mailands statt, bis sie 1933 in den von Giovanni Muzio erbauten Palazzo dell’Arte umzog (Erfahren Sie hier mehr über die Geschichte der Mailänder Triennale). 

Beiträge von 34 Nationen
Ergänzt werden die 27 offiziellen Ausstellungen von 34 Länderbeiträgen, die im Gegensatz zur Expo allerdings keine eigenen Pavillons bespielen. Die eher kompakten Inszenierungen sind räumlich den offiziellen Spielstätten angebunden – und sorgen somit für eine lebendige Durchmischung. Wer sich die das gesamte Programm ansehen möchte, sollte dafür gute zwei Tage einplanen – was parallel zum Parcours der diesjährigen Mailänder Möbelmesse kaum zu schaffen ist. Dennoch lassen sich einige spannende Stationen durchaus in den übervollen Salone-Terminkalender quetschen. Welche das sind, haben wir hier für Sie zusammengefasst.
Die Highlights der XXI. Mailänder Triennale

W Women in Italian Design, Palazzo dell’Arte 
Die von Silvana Annicchiarico kuratierte Ausstellung W Women in Italian Design will mit einem gängigen Missverständnis aufräumen: „Das italienische Design des 20. Jahrhunderts war zweifelsohne ein patriarchalisches Design. Dennoch hatten und haben Frauen sowohl quantitativ als auch qualitativ immer eine signifikante Rolle gespielt, auch wenn sie von der Designgeschichte ausgeblendet, übersehen oder abgewertet wurden. Mit dieser Ausstellung möchten wir dies korrigieren. Nicht als Entschädigung, sondern um ein Gleichgewicht herzustellen“, erklärt Silvana Annicchiarico. Der Rundgang erfolgt nicht chronologisch, sondern ist nach Prozessen wie Weben, Schützen, Spielen oder Suchen unterteilt. Die Objekte werden auf grauen, zylindrischen Podesten präsentiert, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten um die eigene Achse rotieren – und so von allen Seiten betrachtet werden können. Auch wenn prominente Namen wie Gae Aulenti, Lina Bo Bardi, Cini Boeri oder Zaha Hadid nicht fehlen dürfen, liegt der Schwerpunkt vor allem auf jener Generation, die in den vergangenen zehn Jahren die Designbühne betreten hat.

Stanze. Altre filosofie dell’abitare, Palazzo dell’Arte 
Die Ausstellung verlegt den Fokus vom Objekt in den Raum. „Von allen Designdisziplinen ist die Innenraumgestaltung noch immer eines der auf den Alltag einflussreichsten Felder: Schließlich wohnen wir alle in Gebäuden und verbringen den Großteil unseres Lebens in diesen Räumen", sagt Kurator Beppe Finessi. Nach einem Auftaktraum, wo 50 Interieurs den Bogen von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart spannen, reihen sich elf kompakte Architekturen und Räume aneinander, die eigens für die Ausstellung angefertigt wurden. Umberto Riva stellt mit La Petite Chambre eine zeitgemäße Adaption von Le Corbusiers Cabanon vor, die alle Wohnfunktionen in einem kompakten Holzhaus von 16 Quadratmetern Grundfläche vereint. Carlo Ratti konzipierte mit Lift-Bit einen Cluster aus hexagonalen Sitzpolstern, die ihre Höhe alternierend verändern und mal als Bett, Chaiselongue, als Sofa oder Hocker dienen. Alessandro Mendini ging dagegen streng mit sich ins Gericht und entwarf „eine Einzelzelle in einem romantischen und privilegierten Alcatraz", in dem er als Strafe für seine ornamentalen Wildheiten ausharren muss: ein von schwarz-weißen Streifen durchzogener Raum, der die Herzen eines jeden Op-Art-Fans höher schlagen lässt. 

Neo Preistoria – 100 Verbi, Palazzo dell’Arte 
Archaisch und düster wirkt die von Andrea Branzi und Kenya Hara kuratierte Ausstellung Neo Preistoria – 100 Verbi im Obergeschoss des Triennale-Gebäudes. In einem schwarz getauchten Raum wird ein zeitlicher Sprung aus der Vorgeschichte bis in die Gegenwart vollzogen. Die Entwicklung der menschlichen Zivilisation wird in 100 Verben aufgeschlüsselt, denen jeweils passende Artefakte, Objekte und Produkte zugeordnet werden. Darunter findet sich ein 35.000 Jahre alter Faustkeil (zerstören), ein vierzackiges Esswerkzeug von Kannibalen aus dem neunzehnten Jahrhundert (fressen), ein Nachbau der Hiroshima-Atombombe Little Boy (verzweifeln), eine raumhohe Kopie der Titanic-Schiffsschraube (konstruieren), eine Karbon-Fußprothese (wiederherstellen) bis hin zu einer Drohne (fernsteuern). „Die Menschen haben ihre Leistung durch Werkzeuge erweitert. Die Erweiterung der Leistung ist gleichbedeutend mit einer Erweiterung der Sehnsüchte. Folglich ist die Evolution der Werkzeuge eine Evolution der Sehnsüchte“, erklärt Kenya Hara den Ansatz dieser Schau, die Steinzeit, Hightech, Todesgefahr und Wohlbefinden zu einer spannenden Mischung verbindet.

Sempering, MUDEC Museo delle Culture 
Gottfried Semper (1803-1879) war nicht nur der gefeierte Architekt der Dresdner Oper. Aufgrund seiner Teilnahme an der Märzrevolution (für die er übrigens die Barrikaden entwarf) musste er nach deren Scheitern ins Londoner Exil gehen. Dort kuratierte er einen Teil der ersten Weltausstellung im Crystal Palace 1851 und schrieb das Buch „Die vier Elemente der Baukunst“. Einen bleibenden Eindruck scheint der gebürtige Hamburger auf der Insel hinterlassen zu haben: Das Verb „to semper“ bezeichnet seitdem im Englischen einen Prozess, bei dem ein Material oder eine Komponente eine signifikante Spur im fertigen Produkt hinterlassen. Die Kuratoren Luisa Collina und Cino Zucchi übertrugen den Begriff auf ihre Ausstellung Sempering im Museo delle Culture. Der Reiz der Schau liegt im Sprung zwischen den Maßstäben. Techniken wie Stapeln, Flechten, Modellieren, Gravieren oder Falten kommen in der Architektur und im Design gleichermaßen zur Anwendung. Luisa Collina und Cino Zucchi haben treffende Beispiele in kleinen, atmosphärischen Schaukammern verdichtet, wo sich Texturen, Strukturen und Prozesse auf vielfältige Weise überschneiden.

Architecture as Art, Hangar Bicocca 
Auf handfeste Materie setzt die Ausstellung Architecture as Art in der Vorhalle sowie in den Außenräumen des Hangar Bicocca. Die Besucher sollen Gebäude nicht nur durch Skizzen oder Fotos erfahren, sondern durch tatsächlich gebaute Strukturen in Originalgröße. Vierzehn Büros konnten verpflichtet werden, die in Anlehnung an die 2014er Architekturbiennale in Venedig räumliche Antworten auf Begriffe wie Portico, Eingang, Dach, Schutz, Pavillon finden sollten. Und so konstruierten Studio Mumbai aus filigranen Steinträgern einen Patio. Maria Giuseppina Grasso Cannizzo lässt die Besucher durch laut klingende Metallröhren hindurchlaufen. Amateur Architecture Studio öffnen ihren gemauerten Pavillon durch zahlreiche Durchbrüche und geben somit einen Einblick in die innere Struktur der Ziegelwände. Und Atelier Bow-Wow inszenieren einen leeren Raum, von dem eine schmale Treppe hinauf zu einer Kanzel führt, die einem morgendlichen Ritual gewidmet ist: Zähneputzen. 

New Craft, Fabbrica del Vapore 
Die von Stefano Micelli kuratierte Schau widmet sich der Verknüpfung von Handwerk und Design. Der Schwerpunkt liegt jedoch nicht allein auf der Wiederbelebung traditionellen Herstellungstechniken, sondern vielmehr auf dem Zusammenspiel mit neuen Technologien. Das Spektrum ist umfangreich: Gezeigt werden Fahrräder, deren Rahmen im 3D-Druck angefertigt wurden und anschließend von Hand gesäubert, montiert und lackiert wurden. Auch Modeunternehmen sind vertreten, die von Hand gefertigte Kleidung auf computergescannte Körpermaße nähen. Und mehrere Möbelhersteller und Keramikmanufakturen zeigen, wie mit digitalen Werkzeugen die Grenze zwischen Handarbeit und Industrieproduktion überwunden wird.

Hands On, Museo Nationale della Scienza 
Der deutsche Beitrag der XXI. Triennale wird vom Rat für Formgebung und der Stiftung Deutsches Design Museum umgesetzt. „Design prägt wirtschaftliches und kulturelles Zusammenleben über die Grenzen und Generationen hinweg und greift relevante gesellschaftliche Fragestellungen des 21. Jahrhunderts auf“, lässt Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in einem Statement wissen. Anstatt mit vorgefertigten Produkten auf die Konsumenten zuzugehen, ist zunehmend Interaktion gefragt. Der Beitrag Hands On macht daher den Designprozess zum Ausstellungsobjekt. In den kommenden Wochen und Monaten sind zahlreiche Workshops für Schulklassen geplant, die zusammen mit Designern an unterschiedlichen Projekten arbeiten werden. Zugesagt haben unter anderem der Berliner Typograf Erik Spiekermann und der aktuelle Liebling des deutschen Designs, Sebastian Herkner.

Making is Thinking is Making, Palazzo dell’Arte 
Der Faszination des Machens widmet sich der koreanische Beitrag Making is Thinking is Making im Erdgeschoss des Palazzo dell’Arte. Unter der kuratorischen Leitung von Hong Bo Ra werden die Arbeiten von 28 Handwerkern, Designern und Künstlern vorgestellt, die traditionelle Herstellungstechniken in raffinierte Objekte für die Gegenwart übersetzen. Zu sehen sind nicht nur fertige Objekte, sondern ebenso Skizzen, Vorstudien und Interviews mit den Protagonisten, die den Denkprozess mit der Hand erlebbar machen. 

XXI. Esposizione Internationale della Triennale di Milano
noch bis zum 21. September 2016

Mehr aus unserem Special zum Salone del Mobile 2016 finden Sie hier...

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Links

XXI. Triennale

Design After Design

www.triennale.org

Special: Salone del Mobile 2016

www.designlines.de

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