Es werde Lehm
Die Geschichte des traditionellen Baumaterials
Eigentlich war Lehm schon immer da. Schon bei den ersten menschlichen Siedlungen, die vor tausenden von Jahren entstanden, wurde das Gemisch aus Sand und Ton als Baustoff verwendet. Kein anderes Material ist so günstig, so leicht zu beschaffen und dadurch so gut zum Bauen geeignet. Und doch ist die Geschichte von Lehmarchitektur in Deutschland weder besonders lang, noch wird sie mit hoher Baukunst assoziiert.
Nicht nur für uns Menschen war und ist Lehm ein beliebter Baustoff. Auch die Tierwelt vermag schon seit Urzeiten das Material für ihre Zwecke zu verwenden. Die wohl bekanntesten Beispiele sind Termiten und Wespen, die aus dem Werkstoff gigantische und komplexe Welten schaffen. Mal wieder war uns die Natur voraus.
Hochhäuser statt Holzhütten
Die Geschichte des Lehms wurde nicht erst gestern geschrieben: In Nordafrika, im arabischen Raum, in China und Russland genießt das Material eine lange Tradition. Als wir hierzulande noch in Holzhütten wohnten, entstanden im Jemen bereits die ersten Hochhäuser aus dem Naturbaustoff. Heute ist die dortige Hauptstadt Sanaa Weltkulturerbe und für ihre einzigartige Architektur berühmt. Erst ein durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg hervorgerufener Mangel an Baustoffen ließ Lehm auch in Deutschland einen kleinen Boom erfahren. Vor allem in der DDR wurde das Bauen mit dem Material gefördert. Doch das Image blieb schlecht: Lehm gilt bis heute für viele als Notlösung und hat den Ruf, ein „armer“ Werkstoff zu sein, nie ablegen können. Dabei könnte gerade dieser Charakter auch eine positive Deutung erfahren.
Alles gut!
Die derzeitige Renaissance des Werkstoffs Lehm geht vor allem mit dem aufkommenden Nachhaltigkeitsbewusstsein und dem Trend zum ökologischen Bauen einher: Das Material kann überall und ohne großen Aufwand gewonnen werden und ist zu 100 Prozent recyclebar. Außerdem wird zur Aufbereitung nur eine geringe Menge Primärenergie benötigt. Doch die Liste der Vorteile ist noch länger, und es verwundert ein bisschen, dass der Naturwerkstoff keine noch größere Wertschätzung erfährt. Neben ökologischen und wirtschaftlichen gibt es auch klimatische und gesundheitliche Gründe, die für das Gemisch aus Sand, Schluff und Ton sprechen. Das Klima in Lehmgebäuden ist angenehm, da der Baustoff ein höheres Wärmespeicherungsvermögen als andere Materialien aufweist. Daher wirken Räume in Lehmhäusern im Sommer angenehm kühl – im Winter scheinen sie Wärme zu spenden. Zusätzlich ist das Material schadstofffrei, hautfreundlich und wirkt antibakteriell. Architektur mit Heilkraft!
Pferdemist statt Bewehrungsstahl
„Zu mager“ oder „zu fett“: Nein, es geht hier weder um einen Schönheitswettbewerb noch um die Konsistenz eines Stücks Fleisch. Diese Eigenschaften beschreiben die einzigen Risiken bei der Verarbeitung von Lehm: Sie entstehen durch einen zu hohen Anteil an Sand oder Ton. Doch damit ist die Liste der Nachteile des Baustoffs auch schon zu Ende. Und alles, was man zur Herstellung des Materials benötigt, liefert einem Mutter Natur. In den meisten Gegenden wird Lehm Stroh zugesetzt, was eine geringere Dichte und dadurch bessere Wärmedämmeigenschaften zur Folge hat. Außerdem hat Stroh, ähnlich dem Bewehrungseisen beim Beton, eine armierende Funktion und stabilisiert den Baustoff. Der Zusatz kann auch mal, je nach lokaler Verfügbarkeit, durch Kuhdung oder Pferdemist ersetzt werden: Beide Hinterlassenschaften haben einen hohen Anteil an unverrottbaren Faserstoffen. Diese Bewehrung bleibt erhalten: ein Leben lang.
Elitär statt arm?
Das neue Image des Lehms, ein ökologischer Baustoff zu sein, ist für die Verbreitung des Materials von Vor- und Nachteil zugleich: Zwar ist das Material nun nicht mehr „arm“ und erlebt einen weiteren Minitrend, dafür hat es eine „elitäre“ Note hinzugewonnen und wird von vielen als zu kostspielig und kompliziert abgetan. Bio muss man sich leisten können. Dabei braucht man nur einen Blick auf die Ursprungsländer der Lehmverarbeitung werfen, in denen das Material seit mehreren tausend Jahren in gleicher Art und Weise zum Bauen benutzt wird. Und eine eigene Architektursprache erzeugt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.