Hilfe, Hygge!
Hygge, wohin man schaut. Wie der skandinavische Look geht und ob man unbedingt mitmachen muss – Ansichtssache!

Alles fängt damit an, dass Schaffelle und gusseiserne Kerzenständer in unsere Wohnungen drängen. Es folgen Keramikbecher, Makramee-Wandbehänge und Vintage-Möbel. Doch Hygge ist mehr als einzelne Produkte: Hygge ist eine Weltanschauung. Muss man da mitmachen? Ansichtssache.
Plötzlich ist Hygge überall. Aus Dänemark hat Hygge seinen Siegeszug ins südliche Europa angetreten. Und das, obwohl kaum einer erklären kann, was Hygge eigentlich ist. Was zu der Vermutung führt, dass Hygge bald schon wieder out sein könnte. Oder erinnert sich noch jemand daran, was Cocooning oder Shabby war? Hygge hat das Glück – wie die skandinavische Ästhetik überhaupt – länderübergreifend mehrheitsfähig zu sein, ohne anzuecken. Dass darin ein großes Vermarktungspotential liegt, haben natürlich auch die Skandinavier zuerst entdeckt.
Scandi Branding
Zwar waren die Modemarken zuerst da, doch nun überschwemmen auch nordische Lifestyle-Labels unseren Markt. Broste Copenhagen, Ferm Living und Greengate eint, dass sie gestalterisch ganz auf den Scandi-Look setzen und ausgesprochen geschäftstüchtig sind. Ihr Produktportfolio – Möbel, Leuchten, Textilien, Tableware und Accessoires – deckt die gesamte Wohnungseinrichtung ab und macht es dem ungeübten Käufer leicht, sich geschmackssicher und nicht zu teuer einzurichten. So nehmen sie den etablierten Möbel-, Leuchten- und Porzellanherstellern Marktanteile weg – vor allem mit cleveren Branding-Strategien. Wie und warum das so gut funktioniert, erklärt Designer Christian Haas am Beispiel Tischkultur: „Die skandinavischen Labels verstehen es besser als die meisten deutschen Firmen ihre Tableware in zeitgemäße und vor allem authentische Lebenswelten einzubauen. Da geht vieles Hand in Hand wie Art Direktion, Styling, Fotografie, Pressemitteilung und Internetauftritt. Man muss sich nur die Kataloge und die entsprechenden Moodbilder ansehen: Das wirkt spontan, unverkrampft und erstrebenswert.“ Die Massenkompatibilität skandinavischer Ästhetik hat wohl auch Gruner + Jahr dazu bewogen, gleich ein ganzes Lifestyle-Magazin herauszubringen, bei dem sich alles ums Thema Hygge dreht und das – natürlich! – auch so heißt. Bei so viel marketinggetriebenem Kalkül verwundert es nicht, dass Hygge bei den Hamburgern ziemlich weichgespült ist und sich kaum unterscheidet von der allgegenwärtigen, eskapistischen Instagram-Scandi-Bilderflut. Schöner Wohnen – angereichert mit einem Schuss Beerenpflücken im Wald, vor dem Kamin sitzen und heiße Schokolade trinken, mit dem selbst gestricktem Schal dem Nordwind trotzen, Ferien am See machen und Zimtschnecken backen.
Hygger du?
Schade, denn Hygge ist mehr als eine Aneinanderreihung von Klischees – jedenfalls dort, wo der Begriff seinen Ursprung hat. Sarah Trans Jensen, Marketing- und PR-Managerin von Broste Copenhagen, erzählt, dass „Hygger du?“ in der dänischen Sprache „Wie geht es dir?“ bedeute. Will heißen: Hygge – das sind zwar auch Produkte, noch viel mehr aber eine Art zu leben, ein komplexes Konglomerat von Wünschen und Sehnsüchten. Und: Die Suche nach dem einfachen Glück ist so ziemlich das Gegenteil unserer ich-getriebenen, technokratischen, kapitalistischen Welt. Dass Hygge – gestalterisch gesehen – inzwischen absoluter Mainstream ist, liegt wahrscheinlich daran, dass es so einfach und unkompliziert ist, seine Wohnung in einen Hygge-Tempel zu verwandeln. Man nehme: weiße Wände, weiß lasierte Eichenholzböden, ein paar Farbklekse in Pastell und für den Wagemutigen in Schwarz, einen Kamin oder Kachelofen, Holzmöbel – gern dänische Klassiker von Finn Juhl oder Hans A. Wegner – und kombiniere die guten Stücke mit geflochtenen Körben, dicken Teppichen, kuscheligen Kissen und Schaffellen, behaglichen Lichtquellen, Kerzen und Vintage-Dekorationsstücken aus Glas und Keramik, am liebsten handgefertigt. Außerdem ganz wichtig und das Mantra der Stunde: Struktur, Struktur, Struktur. Denn in Zeiten, in denen Smart Gadgets manchmal wichtiger sind als Menschen, sehnen wir uns nach: Natur, Handgemachtem, haptischen Erlebnissen. Deshalb gehören zum Hygge-Komplett-Look unbedingt natürliche Materialien mit ausgeprägter Haptik: Holz, Leinen, Leder, Keramik, Marmor, Messing.
Einrichten für Anfänger
Hygge kam aber nicht so plötzlich zu uns, wie man vielleicht denken mag. Im Gegenteil: Hygge war gestalterisch eigentlich schon immer da. Bei uns spätestens seit den Sechzigerjahren, als Hygge jedoch noch nicht Hygge hieß. In (west-)deutschen Wohnzimmern standen damals schlichte dänische Möbel aus Teak- und Nussbaumholz, über dem Esstisch hing eine kupferne Leuchte von Jo Hammerborg und auf dem Sideboard stapelten sich die Keramikvasen. Die Ferien verbrachte so manch einer an der dänischen Nord- und Ostseeküste in einer gemütlichen Blockhütte – oder wenigstens auf Fehmarn. Die Quintessenz von Hygge ist Gemütlichkeit, auch wenn der Deutsche sich bei diesem Begriff möglicherweise nicht ganz wohl fühlen mag, weil er an staubige und – noch schlimmer! – piefige Interieurs aus den Sechzigern und Siebzigern denkt. Doch Hygge heute – das steht für luftig und hell. Am besten funktioniert der Hygge-Look in Altbauten der Jahrhundertwende, die ruhig auch ein wenig heruntergekommen sein dürfen. Denn das passt genau zum Scandi-Vintage-Look, der möglichst unaufgeregt und charmant sein soll.
Ein Grund für den Siegeszug von Hygge ist die zunehmende Urbanisierung. Immer mehr Menschen ziehen in Großstädte, während die Wohnungen kleiner werden. „Ein simples und funktionales Produktdesign wird stark nachgefragt, weil man damit kleine Flächen einfacher gestalten kann“, erklärt Søren Ravn Christensen, Gründer und Chefdesigner des Leuchtenlabels Vita Copenhagen, und hat mit der Federleuchte Eos auch gleich das passende Produkt zur Hand. Ebenso wie Knud Erik Hansen, CEO von Carl Hansen & Son. Der dänische Hersteller ist vor allem bekannt für seine Sixties-Möbelklassiker von Kaare Klingt, Mogens Lassen und Poul Kjærholm, die visuell wie auch haptisch für Hygge-Freunde ziemlich ansprechend sind. „Hygge ist tief verwurzelt in uns Dänen und integraler Bestandteil unseres Lebens“, sagt er. Nun ja, das ist eben der Unterschied zu Ländern wie Deutschland, England oder Frankreich. Denn einen Lebensstil, der eng verknüpft ist mit Landschaft, Kultur und Geschichte eines spezifischen Landes, kann man nicht einfach so woandershin verpflanzen.
Tüddelkram und Ramschniveau
Doch Authentizität liegt in weiter Ferne, wenn Trends die große Masse erreichen. Denn jeder will etwas abhaben vom großem Kuchen, sprich: damit Geld verdienen. Statt den eigenen (gestalterischen) Weg zu gehen, stülpt man den Produkten einfach die Hygge-Verkleidung über. Und so sind es längst nicht mehr nur die skandinavischen Labels, die Dinge verkaufen, die (angeblich) hyggelig sind.
Es ist wahrscheinlich die Mischung von Pippi-Langstrumpf-Romantik, unkomplizierter Lässigkeit, nordischer Schönheit und skandinavischer Designtradition, die Hygge gerade in Deutschland so erfolgreich macht. Zugegeben, der Hygge-Look ist schön, aber auch extrem gefällig. Fast jeder scheint ihn zu mögen, nur wahrscheinlich ein paar Bauhaus-Puristen nicht. Die fragen sich wohl eher: Seid ihr denn plötzlich alle meschygge? Kann sein, aber es gibt Trost: Hygge ist ein Hype und wird wahrscheinlich bald von der Bildfläche verschwunden sein. Im Gegensatz zu gutem skandinavischem Design und einem Eintrag im Duden. Da hinein hat es nämlich nun auch Hygge geschafft – neben Wörtern wie Tüddelkram, Work-Life-Balance, Urban Gardening und Ramschniveau. Passt!
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