Kiesel-Hocker & Hörnchen-Sofas
Die Neuheiten der 60. Mailänder Möbelmesse
Zurück mit voller Kraft: Was bleibt von diesem 60. Salone del Mobile, der in seiner Wuseligkeit und Fülle nahtlos an Vor-Pandemie-Zeiten angeschlossen hat? Während die Erinnerungen an Events und Partys verklingen, ist es Zeit, bei den Neuheiten Bilanz zu ziehen.
Die Zeit läuft auf diversen Schienen. Viele Firmen haben auf diesem Salone Produkte gezeigt, die eindeutig noch den Produktionsstraßen des Jahres 2020 entsprungen sind: Nachzügler, für die sich erst jetzt die richtige Bühne zur Präsentation fand. Andere Entwürfe sind ganz klar von den Erfahrungen der Pandemie geprägt, als das Wohnen zum zentralen Thema des Alltags wurde und die Inneneinrichtung in ihrer bisherigen Form auf die Probe gestellt wurde.
Bigness
Es darf ein wenig größer sein. Vor allem Polstermöbel warten mit gesteigerten Dimensionen auf. Auffällig sind extrem voluminöse Sofas und Sessel, die aus dem Kontext der domestizierten Umgebung herausspringen. Ihre besondere Tiefe verwandelt die Sitzmöbel in potenzielle Betten, ihre ausladende Breite bietet Raum für eine ganze Familie. Sie sind Gemeinschaftsmöbel par excellence. Zugleich darf eine Spur Ironie nicht fehlen, indem sie die Nutzer*innen kurzerhand in Zwerge verwandeln. Die Größe verändert Sehgewohnheiten und Nutzungsformen. Sofasysteme können endlos erweitert werden, nicht nur in die Länge, sondern ebenso in Breite und Tiefe. Die Sitzlandschaften der späten Sechzigerjahre werden in ihrem Volumen aufgegriffen, während die Formensprache weniger dem Pop als vielmehr puristischer Klarheit folgt.
Soft Shapes
Rundum weiche Sofas und Hocker erinnern an Kieselsteine, die zu großen Arrangements gruppiert werden, als wäre ein Flussbett ins Wohnzimmer transferiert worden. Die runden, oft flachen Sitzmöbel vermeiden eine klare Richtung. Sie können von allen Seiten okkupiert werden. Zudem lassen sie den Raum größer wirken, weil auf hoch aufragende Rückenlehnen verzichtet wird. Auch Beistelltische werden nicht alleine, sondern zu lockeren Gruppen arrangiert. Sie variieren in Form und Höhe ihrer Platten, sodass sie sich übereinander schieben lassen und spannungsvolle Kaskaden zwischen Couch und Sessel bilden. Auch Esstische – im Vergleich zu skulpturalen Sofabegleitern eher strengere und nüchterne Naturen – ziehen mit unerwartet kurvigen Sockeln die Blicke auf sich.
Siebzigerjahre
Die Disko-Ära ist allgegenwärtig im Wohnen. Und sie schafft es sogar, die gefühlt seit ewig andauernde Midcentury-Fixierung um zwei Dekaden nach vorne zu schieben. Runde, ausladenden Formen bringen Kühnheit und Extravaganz zusammen. Der Schlüssel auf gestalterischer Ebene ist der Kreis. Oder besser gesagt: seine halben oder geviertelten Anschnitte. Sie kommen fast immer als konvexe, sprich nach außen gewölbte Kurven und Rundbögen zum Einsatz. Doch auch Umkehrungen mit nach innen gerichteten Krümmungen sind zu sehen, ob bei Tischplatten, Konsolen oder auch bei Regalen. Letztere galten in E-Book-Zeiten lange als Auslaufmodell. Doch gerade auf diesem Salone wurden wieder großformatige Regalwände inszeniert, die vor allem mit Souvenirs, Sammlerstücken oder den derzeit allgegenwärtigen Zimmerpflanzen inszeniert wurden. Lederbezüge mit Waffelsteppung erinnern an Vintage-Skikleidung oder Sportwagensitze aus der Disko-Ära. Die Sinnlichkeit der Formen und Farben gilt keineswegs allein für Sitzmöbel. Sie überträgt sich auf Teppiche und Paravents, die Räume zonieren, ohne starre, unverrückbare Trennungen zu erzeugen.
Systeme und Module
Modularität sorgt für eine ungewöhnliche Allianz: Sie bringt Verspieltheit und Effizienz zusammen. Systembausteine stehen für Vereinfachung. Doch gerade in der Reduktion liegt der Schlüssel zur Erweiterung. Aus der Addition einfacher Grundformen werden komplexe Kompositionen erzeugt. Die Dinge können verschiedene Aufgaben erfüllen, andere Formen annehmen. Möbel haben mehr als nur ein Gesicht. Sie können sich weiterentwickeln, mit den Räumen wachsen oder schrumpfen. Sie sind für den nächsten Umzug vorbereitet. Alles ist im Fluss, alles ist in Bewegung. Die Dinge werden zu Chamäleons, die sich wechselnden Situationen auf verblüffende Weise anpassen.
Hörnchen-Sofas
Sie sind sanft gebogen und können in überaus üppigen oder in kompakten Dimensionen daherkommen. Doch den meisten Hörnchen-Sofas reicht eine kleine Grundfläche aus. Ihre gekrümmte Sitzfläche intensiviert Blickkontakte und Konversationen zwischen den Sitzenden gleichermaßen. Die Sitzflächen können als voluminöse Körper direkt auf dem Boden aufsetzen oder als filigrane Ebenen über dem Boden schweben. Die organischen Konturen machen die Möbel anpassungsfähig und geeignet für eine Vielzahl an Einrichtungen. Sie fügen sich in den Raum ein, ohne ihn zu dominieren. Bouclé-Stoffe verleihen den Oberflächen haptische Qualitäten.
Opulenz
Schluss mit falscher Zurückhaltung. An vielen Messeständen dieses Salone del Mobile waren Gemälde mit reich verzierten Goldrahmen zu sehen. Möbel aus Messing übertragen den warmen Schein in den Raum. Intarsien aus schimmerndem Metall akzentuieren Tischoberflächen. Auch der Lüster ist als zentrales Thema im Lichtbereich zurück, nicht auf historisierende, sondern auf zeitgemäße Weise. Der Lüster wird nicht mehr als starres Objekt verstanden, sondern kann in seiner Lichtstreuung modifiziert werden. Der Hang zur Opulenz zeigt sich auch in flauschigen Bezügen aus Kunstfell. Als Leuchtenschirme dienen barocke Porzellanfragmente oder in kunstvollem Faltenwurf arrangierte Stoffe. Böden und Wände greifen Mosaike des 17. Jahrhunderts auf.
Sinnlicher Purismus
Klare Kante mit Wärme: Leder und Holz sind das glorreiche Doppel bei der Konstruktion von Stühlen und Sesseln. Puristische Bänke lassen an klösterliche Strenge denken, warten jedoch mit weich geschliffenen Oberflächen auf, die den Fingern schmeicheln. Schichtholzstühle sorgen mit geschwungenen Seitenflächen für Dynamik. Flechtwerk wird von Terrassenmöbeln auf die Gestaltung von Sitzmöbeln für den Innenraum übertragen. Taktile Raffinesse verbindet sich so mit konstruktiver Leichtigkeit. Natursteine mit reichen Maserungen und teils tiefen Einschlüssen setzen einen Gegenpol zur puristischen Formensprache.