Kulissenzauber
Vermöbelte Augenwischerei auf dem Salone del Mobile 2019
Auf der Mailänder Möbelmesse geht es zu wie in der Bar Basso. Dieselben Zutaten werden immer wieder neu gemischt. Das Wohnen als ewiger Cocktail. Weil jedoch mehr und mehr der Mut zur Variation und Innovation abhanden kommt, muss die Dekoration aushelfen. Das sieht gut aus und hebt die Stimmung. Doch im Grunde wird viel heiße Luft serviert. Dabei ließe sich die Situation in wenigen Schritten neu beleben.
Die Massen quetschen sich. In den U-Bahnen, vor den Sicherheitskontrollen wie am Flughafen. Und in den Hallen sowieso, die wirken, als hätte das Mailänder San-Siro-Stadion seine Besuchermengen geradewegs auf das Messegelände in Rho ausgespuckt. Im Grunde ist man schon fix und fertig, bevor man überhaupt das erste Produkt gesehen hat. Der Salone del Mobile ist eine Herausforderung geworden – physisch wie psychisch. Denn nicht nur, dass man sich mit Körpereinsatz durchkämpfen muss. Endlich angekommen, schlägt die Stunde erzwungener Suggestion.
Jedes Möbel hat eine Geschichte zu erzählen: Sogar die Stücke, die gerade erst das Licht der Welt erblickten. Das Wohnen ist zum Ort des Narrativen geworden, wo Stühle und Sessel nicht nur zum Sitzen dienen. Sie katapultieren ihre Be-Sitzer an einen anderen Ort, in eine andere Zeit, in eine andere Stimmung. Hauptsache weg. Die Aufgabe der Märchenerzähler übernehmen weniger die Designer, sondern vielmehr die Stylisten. Die Stände gleichen atmosphärischen Mood-Boards, die gute Laune verbreiten und Cosyness zur Vollendung bringen.
Vermöbelte Augenwischerei
Das Problem dabei: Es bleibt oft nur bei der Verpackung. Nicht das einzelne Produkt zählt, sondern allein die Welt, in die das Produkt eingebunden wird. Das funktioniert auf einem Messestand oder in einem der vielen Showrooms und Ausstellungsräumen in der Stadt. Doch in einer Wohnung muss auch das Einzelstück bestehen. Genau hier bewegen sich viele Firmen auf dünnem Eis. Die Produkte verlieren sich in ihren Inszenierungen. Die Oberfläche ist keine vielschichtige Bedeutungsebene wie einst in wilden Memphis-Zeiten. Sie ist vermöbelte Augenwischerei für Instagram, um von banalen Formen und Konstruktionen abzulenken.
Wir sind alle Kinder
Nicht der Inhalt wird inszeniert. Die Inszenierung ist der Inhalt. Es spricht Bände, dass die zwei derzeit heißesten Namen nicht aus dem Design kommen, sondern früher Stylisten waren: Studiopepe und Dimorestudio. Viel Farbe, viele Muster. Genau wie die prachtvollen Ostereier, die in den Mailänder Kaffeehäusern zurzeit die Schaufenster schmücken. Der Kindergeburtstag als Wohnidee. Der Salon als Eisdiele. Dabei kann man froh sein, dass es die Stylisten gibt. Denn so haben zumindest die Augen ihre Freude und machen all die tristen Sofas und Schränke vergessen, die einem beim sonstigen Parcours durch die Mailänder Designwoche unentwegt begegnen.
Beständiges Stühle-Rücken
Der Knackpunkt: Den Herstellern fehlt es an Mut, eigene Statements zu setzen. Im Grunde sehen wir genau dieselbe Entwicklung wie im Automobilbereich, wo sich die großen Marken so sehr in ihrer Formensprache angenähert haben, dass sie nur noch durch den Blick aufs Logo am Kühlergrill zu unterscheiden sind. Fast alle Möbel-Hersteller arbeiten mit denselben Designern. Diese werden im Jahrestakt durchgereicht und wissen irgendwann selbst nicht mehr, für wen sie gerade etwas entwerfen. Die Gruppe vermag Sicherheit versprechen. Doch die Marken und Designer verlieren damit an Profil und Haltung – was keineswegs egal ist. Denn sie sind es, die man bei einem Produkt stets mit kauft. Dabei muss die Dekoration nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
Es ginge auch anders.
5 Schritte, um dem Möbeldesign wieder auf die Sprünge zu helfen
01 Den Fokus zurück auf die Produkte stellen. Inszenierungen sind gut und wichtig. Doch sie verpuffen, wenn es nichts gibt, was eine Inszenierung wert ist. Hier stellt sich die ganz altmodische Frage nach dem Mehrwert: Warum soll ich mir diesen einen neuen Stuhl kaufen und nicht den Klassiker von XYZ? Das Neue braucht eine Berechtigung, um am Markt bestehen zu können.
02 Ob Bauhaus oder Sixties-Space-Age: Innovation im Design war immer mit neuen Herstellungstechniken und Materialien verknüpft. Hier sollten die Hersteller und Gestalter einen engeren Schulterschluss zu Technischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen suchen. Häufig sitzen die auf brandneuen Erfindungen und wissen nicht so recht, wie sie in den Markt kommen sollen. Die Synergien durch diesen Austausch wären beachtlich.
03 Warum werden die Zeitregler immer zurückgedreht? Gewiss entfalten Midcentury-Entwürfe noch immer eine starke Sogkraft. Doch nur deswegen, weil ihnen von heute kaum etwas entgegengesetzt wird. Wir sollten die Vergangenheit nicht länger als alleinigen Sehnsuchtsort begreifen und im Hier und Jetzt ankommen – vielleicht sogar einen Blick nach vorne wagen. Die Retro-Zeit ist vorbei!
04 Die Marken sollten die Designer wieder stärker an sich binden. Hier kommt ein Thema ins Spiel, über das kaum geredet wird: Das veraltete System der Royalties. Drei Prozent vom Brutto-Verkaufspreis bekommen die Gestalter in der Regel. Eine Pauschalvergütung für die Entwicklung gibt es häufig nicht. Will heißen: Jedes Designbüro muss mindestens 20 Produkte im Jahr auf den Markt werfen, um mit Mühe Miete und Gehälter zahlen zu können. Hier sollte nachgebessert werden. Eine fairere Bezahlung bei einer gleichzeitigen exklusiven Bindung an einen oder wenige ausgesuchte Hersteller – ein Investment, das für die Firmen überschaubar wäre und ihnen doch enorme Vorteile bringen würde: Alleinstellung und Erkennbarkeit.
05 Mut zur Jugend. Es mag verständlich sein, warum die Firmen auf die zehn, fünfzehn großen Namen der Stunde zurückgreifen. Doch es wirkt fast schon grotesk, dass genau die für gefühlt 80 Prozent der jährlichen Neuheiten verantwortlich sind. Der Salone Satellite und andere Nachwuchsschauen zeigen viel Talent. Gebt ihnen eine Chance!
FOTOGRAFIE Paola Pansini
Paola Pansini