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Maison & Objet Winter 2016: Eskapismus in Paris

Mehr Atmosphäre! Die Pariser Einrichtungsmesse zeigte, dass dekorativ kein Schimpfwort mehr ist.

von Norman Kietzmann, 28.01.2016

Die Pariser Einrichtungsmesse Maison & Objet entführt in eine wilde Mixtur aus Exotik und Retro. Möbel gab es an der Seine zwar auch zu sehen. Doch ihnen wird längst der Rang abgelaufen von gemusterten Tapeten, taktilen Vasen und schimmernden Leuchten: Dingen, die jeder Inneneinrichtung die nötige Würze verleihen.

Dekoration ist im Design ein böses Wort. Wer einen Entwurf vernichten will, lobt ihn – zumindest im deutschsprachigen oder nordeuropäischen Raum – als dekorativ. In Frankreich sieht man das ein wenig anders. Décoration wird dort keineswegs als unnütz und überflüssig bewertet. Sie ist ein Synonym fürs Wohnen und von stilistischen Assoziationen weitgehend befreit. Ergo: Ein puristisches John-Pawson-Interieur oder eine üppige Versace-Villa sind beide Déco – nur eben zwei verschiedene Spielarten auf einer vielseitig anwendbaren Skala. 

Mut zur Oberfläche
Interessanterweise ist das Dekorative derzeit auf dem Vormarsch. Weil die meisten Möbel entweder auf sicheren Retro-Pfaden wandeln oder mit Archetypen Zeitlosigkeit suggerieren, müssen eben andere Dinge für einen atmosphärischen Ausgleich sorgen. Und so werden nicht nur Wände, Vorhänge und Böden mit geometrischen oder figürlichen Mustern zum Leben erweckt (Lesen Sie hier unseren Bericht zur Domotex-Boden-Messe in Hannover). Auch dekorative, kleinteilige Objekte werden als geeignete Werkzeuge begriffen, um einer Inneneinrichtung den letzten Schliff zu geben. 

Es spricht Bände, dass diesmal auf der Kölner Möbelmesse, wo normalerweise eher großformatige Schränke, Sofas oder Tische dominieren, eine ganze Armada an Accessoires aufgeboten wurde. Betritt die imm cologne damit weitgehend Neuland, ist Paris bei kleinteiligeren Formaten ganz in seinem Element. Schließlich durfte das Wohnen an der Seine schon immer eine Stufe verspielter und exklusiver sein. Genau aus diesem Grunde lohnt die Weiterreise von einem Messespektakel zum anderen, weil sich beide auf komplementäre Weise ergänzen.

Dynamisches Potpourri
Natürlich ist die Maison & Objet eine skurrile Messe. Nirgendwo sonst treffen Möbel, Tierfiguren, Geschirr, Weihnachtsbäume und Ethnoschmuck zu einer derart wilden Melange aufeinander. Der Eindruck eines Gemischtwarenladens ist im diesen Jahr verstärkt worden – wenngleich aus durchaus nachvollziehbaren Gründen. Wurden Möbel bislang in Halle 8 und Accessoires in Halle 7 präsentiert, wirbelten die Messemacher nun beide Segmente kräftig durcheinander. 

Die Käfighaltung der einzelnen Branchen aufzubrechen, erschwert zwar die Orientierung. Doch dafür macht es den Rundgang spannender, wenn Sofas und Sessel auf farbige Glasvasen, raffinierte Porzellanfiguren und puristische Keramik treffen – ganz so wie in einem richtigen Zuhause. Als Inspiration dürfte zweifelsohne der kleinteilige Branchenmix gedient haben, der in Köln als Pure Editions in den Hallen 2.2 und 3.2 bereits erfolgreich angewendet wird – übertragen auf eine größere Fläche und weitaus exzentrischere Protagonisten.

Sinnliche Akzente
Die Wohnung wird in Paris als eine Bühne inszeniert, auf der verschiedene Lieblingsdinge zusammentreffen. Eine Entdeckung sind die Keramikvasen von Paola Paronetto, die verschiedene Papier- und Pappsorten mit einer speziellen Tonmixtur verbindet. Das Ergebnis sind raffinierte Gebilde, die mit ihren taktilen Oberflächen und elegant gestreckten Proportionen den Wohnraum akzentuieren, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Auch viel Glas ist auf der Maison & Objet zu sehen, wobei diesmal vor allem die tschechischen Aussteller deutlich an Präsenz und gestalterischer Schärfe gewonnen haben. In atmosphärische Welten entführen die Glasvasen von Anna Torfs aus Prag. Klare Kuben und Sphären werden von ihr mit sinnlichen Farben verbunden, die selbst jedes Puristenherz höher schlagen lassen.

Schimmernde Farben
Auffallend ist die Tendenz zu schimmernden Oberflächen. So stellte der böhmische Glashersteller Bomma die Leuchtenserie Soap vor, deren mundgeblasene Schirme durch Seifenzusätze in ein vielfarbiges Spektrum versetzt wurden. Eine ähnliche Wirkung vollzieht Tom Dixon mit der Vasen-, Schalen- und Kerzenserie Oil. Die Korpusse sind zunächst mundgeblasen und anschließend von Hand mit einer Lösung bemalt worden, die einen ähnlichen Effekt erzielt wie ein auf dem Wasser treibender Ölfilm. Auch hier verhält sich das zerbrechliche Material nicht neutral, sondern stillt die Sehnsucht nach Atmosphäre. Das Schimmernd-Reflektierende wirkt wie eine Tarnung: Es nimmt den Dingen ihre physische Präzision und lässt sie leicht unscharf erscheinen – fast so als wollten sie sich inmitten ihrer Umgebung auflösen. 

Tierische Tarnung
Ganz gleich ob Glas, Porzellan oder Holz: Neben abstrahierten Formen sind auffallend viele figürliche Objekte zu sehen. Führt Iittala bereits seit den siebziger Jahren eine Kollektion von Glasvögeln im Sortiment, hat der finnische Designer Klaus Haapaniemi nun einen feuerroten Fuchs hinzugefügt. Jaime Hayon bricht für die spanische Manufaktur Lladró die Sehgewohnheiten und überzieht eine Gruppe Porzellan-Delfine mit schwarz-weißen Zickzack-Dazzle-Mustern, wie sie einst im Ersten Weltkrieg zur Tarnung ganzer Schlachtschiffe verwendet wurden. Wer es dagegen eher konkret mag, ist am Stand von Design et Nature richtig. Das Pariser Spezialgeschäft für animalische Trophäen führt ausgestopfte Löwen, Bären und Eulen im Sortiment. Auch riesige Langusten und Hummer finden sich unter den Exponaten, deren zertrennte Glieder wie dreidimensionale Explosionszeichnungen in Glaskästen in Szene gesetzt werden.
Pariser Dschungelfieber 
In einen von Tiergeräuschen durchdrungenen Regenwald entführt Hermès auf einem Hinterhof unweit des Triumpfbogens. Zwischen raschelnder, tropischer Vegetation wird das Porzellanservice Carnet d‘Équateur vorgestellt, das mit handgemalten Leoparden, Jaguaren, Affen und Papageien überzogen ist. Zeitgleich zur Maison & Objet findet in der Stadt die Begleitmesse Paris Déco Off statt. In den Showrooms der Stoffhersteller, die sich vor allem am linken Seineufer um die Rue de Furstemberg tummeln, sind die neuen Trends bei Vorhängen, Stoffen und Tapeten zu bewundern. Auch hier stehen die Zeichen klar auf exotischen Ausflügen wie bei der Tapeten- und Stoffkollektion Fantasque von Osborne & Little oder der Jungle Collection von Pierre Frey. 

Materieller Vielklang
Bei den Möbeln dominieren kompakte, filigrane Formen wie der Beistelltisch Bitop, den Rodolfo Dordoni für den französischen Hersteller Co-Edition entworfen hat. Eine runde und eine eckige Ablage treffen hier auf unterschiedlichen Höhenebenen und in verschiedenen Materialien zusammen. Den prominentesten Standort gleich am Eingang der Halle 7 hat sich der chinesische Möbelhersteller Stellar Works gesichert. Auf Leichtigkeit setzt dort das kanadische Designerduo Yabu Pushelberg mit der Kollektion James, die eine Chaiselongue, einen Sekretär, einen Hocker sowie einen Barwagen umfasst. Die filigranen Entwürfe kombinieren schwarze Stahlrahmen mit schlanken Walnuss-Ablagen und Sitzflächen aus mattem, sandfarbenem Leder. Ins Auge fällt vor allem der James Desk, der mit seinem hohen, feingliedrigen Gestell einen Raum im Raum definiert und freistehend überall platziert werden kann. Ein Möbel mit raumgreifender Wirkung hat Christophe de la Fontaine mit dem Paravent Minima Moralia für das von ihm gegründete Label Dante ersonnen. Anstelle planer Oberflächen kommen gefaltete Stoffrücken zum Einsatz, die einen abwechslungsreichen Schattenwurf erzeugen. 

Sinnlicher Eskapismus
Was bleibt von dieser Messe? Zunächst einmal das beruhigende Gefühl, dass das Wohnen in Zukunft abwechslungsreicher wird. Dekoration ist kein Schimpfwort mehr, sondern eine weitere Facette. Die Wohnung zu einer atmosphärischen Rückzugskapsel auszubauen, ist sicherlich nicht neu. Ebenso wenig die Faszination fürs Exotische, die unausweichlich eine Zeit beschwört, als der Ferne nicht mit Internet und Düsenjet, sondern noch mit Dampfschiff oder Orientexpress begegnet wurde. Das Wohnen gleicht einem sinnlichen Eskapismus – vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein. Die passenden Utensilien waren auf dieser Messe bereits dabei.

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Maison & Objet

www.maison-objet.com

Maison & Objet Winter 2016

Best of Tableware & Accessoires

www.designlines.de

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