Plädoyer für die Unvollkommenheit
Dass Perfektion nicht alles ist, beweist die erste Design-Biennale in Istanbul. Sie plädiert für die die Stadt so prägende Unvollkommenheit und macht zugleich zwei Themen zugänglich: die viel kritisierte lokale Stadtentwicklung und das sich in einem fortlaufenden Prozess befindende Open-Source-Design.
In diesen Herbsttagen bietet der Platz am Galataturm einen der schönsten Anblicke der Stadt. Umgeben von alten Platanen mit ihren gelben, goldenen und orangefarbenen Blättern, gehört er zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten von Istanbul. Den Eindruck der Idylle verstärkt das Rascheln des Laubes unter den Füßen. Es lässt die Gesprächsfetzen der Touristen in Vergessenheit geraten.
In diesen Tagen sprechen in Istanbul alle vom Wandel, in der Universität, im Büro, im Gündoğdu, dem ältesten Café am Platze: Überall reden die Menschen vom Umschwung, der dritten Bosporus-Brücke, dem gerade noch vereitelten Gesetz zur Abschaffung der Straßenkatzen, den steigenden Mieten in Şişhane und der ersten Design-Biennale der Stadt. Fast täglich fallen historische Entscheidungen für das öffentliche Leben, in die die Öffentlichkeit kaum einbezogen wird. Über kurz oder lang könnten die soziale Gerechtigkeit und Istanbuls Charme verloren gehen; zwei Aspekte, die den Menschen Sorge bereiten und denen sich die neue Kulturveranstaltung widmet.
Perfekt unperfekt
Der Titel der Biennale lautet Kusurluluk – Unvollkommenheit –, vorgeschlagen wurde er von Deyan Sudjic. „Als Stadt ist Istanbul alles andere als perfekt, dennoch ist sie eine der berauschendsten und dynamischsten Zentren der Welt. Die besondere Qualität der Stadt liegt darin, so viel aus der Unvollkommenheit, dem Ungenauen und Provisorischen herauszuholen“, sagt der Direktor des Londoner Designmuseums und Mitglied des Biennale-Beirats. „Das Thema der Unvollkommenheit erzählt der Welt etwas über Istanbul und bietet darüber hinaus eine klare Einsicht in die Beschaffenheit zeitgenössischen Designs.“
In diesem Sinne ist der Titel für die Design-Biennale perfekt gewählt. Er bietet eine neue Sichtweise auf alte Ideen und das aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: den Hauptausstellungen Musibet und Adhocracy. Erstere wurde von dem türkischen Architekten Emre Arolat für das Museum Istanbul Modern kuratiert, letztere von Joseph Grima, dem Chefredakteur des italienischen Architektur- und Designmagazins Domus, für die nur fünf Gehminuten vom Museum entfernte Griechische Grundschule Galata.
Übel, Katastrophe und Verhängnis
Musibet heißt so viel wie Übel, Katastrophe oder Verhängnis. Die Ausstellung mit über 1000 Quadratmetern Fläche behandelt vornehmlich die Stadtplanung als Thema. Emre Arolat nutzt sie als Sprachrohr, um die Veränderungen in Istanbul zu thematisieren. Er stellt verschiedene Großprojekte aus seiner Heimatstadt infrage und vergleicht sie mit ähnlichen internationalen Unternehmungen: die zahlreichen geschlossenen und seelenlosen Wohnanlagen, die vermehrt entstehen; die dritte Bosporus-Brücke, die einen ganzen Stadtteil zu einem Ort des Transits macht und ihn teilweise zerstört; oder die Verlagerung der Einwohner ganzer Viertel an den Stadtrand, sei es die alteingesessenen Handwerkermanufakturen aus Şişhane oder die kurdischen und afrikanischen Bewohner aus dem Armenviertel Tarlabaşı unweit des Taksim-Platzes. Meist sind es Projekte, die ihre Umwelt vernachlässigen, soziale Divergenzen schaffen oder als Mittel missbraucht werden, um Macht zu demonstrieren.
Die Ausstellung ist wie ein Parcours aufgebaut. Er beginnt mit dem Betreten eines dunklen Flures. Dieser wird von einem imposanten Eisentor verschlossen und stellt das Verbindungsglied zwischen den 32 Ausstellungsräumen dar. Er wirkt beklemmend, fast wie eine Verkörperung des Ausstellungsthemas: ein unterdrückter Zustand von Übel, Katastrophe und Verhängnis, der sich unaufhörlich um den Wandel von Istanbul dreht. Der Wandel wird in den einzelnen Zimmern – oder wie Arolat sie bezeichnet – Zellen aufgezeigt. Im Gegensatz zum dunklen Korridor sind sie hell beleuchtet, fast positiv in ihrer Anmutung. Sie zeigen unvoreingenommen Istanbuls Wandel neben internationalen Projekten wie den IBA-Sozialbauten aus Berlin-Kreuzberg aus den 1980ern oder aktuellen, wenig charmanten Villen der Oberschicht aus Dubai, die von nachgeahmten historischen Fassaden charakterisiert werden.
Dritte industrielle Revolution
Im Gegenzug zu Musibet richtet die Ausstellung Adhocracy ihren Fokus auf die allgemeine Entwicklung im Design, und das auf einem intellektuellen, fast theoretischen Niveau. Passend zu dem Biennale-Thema der Unvollkommenheit befasst sich der Kurator Joseph Grima mit dem sich stets in einem fortlaufenden Prozess befindenden Open-Source-Design. Er zeigt einen unverklärten Blick auf das Zeitgeschehen, in dem individuell entworfene und gefertigte Objekte vermehrt eine Alternative zu den millionenfach hergestellten und dank ihrer Perfektion identischen Produkten bieten.
Die Ausstellung folgt einem freien Parcours, sie ist nicht in Themen oder Bereiche unterteilt. Auf vier Etagen und einer Fläche von über 2.300 Quadratmetern werden verschiedene Projekte präsentiert, bei denen weniger die Endresultate als die Prozesse im Vordergrund stehen. Sie formen nicht nur Gegenstände, sondern nehmen auch Einfluss auf die Gesellschaft, sei es bei einem DIY-Traktor oder einer ferngesteuerten Überwachungskamera Marke Eigenbau. Oder in der Stratigraphic Manufactory, in der das belgische Studio Unfold gemeinsam mit lokalen Handwerker in der Schule Keramik entwirft, im 3D-Druck herstellt und verkauft.
Indirekte Lokalpolitik
Weitere Projekte finden sich im großen Begleitprogramm der Biennale. Sie sind über verschiedene Orte in der Stadt verteilt, machen diese neu zugänglich und beziehen sie in vielen Fällen geschickt in die Veranstaltung mit ein. Dass im Café Gündoğdu am Platz des Galataturms über den Wandel der Stadt gesprochen wird, hat sicherlich auch einen neuen Grund: Seit ein paar Wochen hängt hier ein Lüster, der im Rahmen des Projektes More than Design entstanden ist, ein Workshop, in dem türkische und deutsche Designstudenten mit kleinen Handwerksmanufakturen aus Şişhane und Galata zusammengearbeitet haben. Wie die beiden Hauptausstellungen tragen auch die über die Stadt verteilten Projekte ihren kleinen Teil dazu bei, um geschickt die Öffentlichkeit auf das aktuelle Zeitgeschehen und seine gesellschaftliche Auswirkungen aufmerksam zum machen, in ihrem Fall auf die Kunstfertigkeiten der von der Verlagerung an den Stadtrand – und somit dem Ende – bedrohten Institutionen.
Mehr zur Design-Biennale in Istanbul erfahren Sie in unserem Special.
FOTOGRAFIE David Rych
David Rych
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