Plan B
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Wie helfen sich Menschen in den Ländern, in denen nur ein beschränktes Produkt-Repertoire für die Grundversorgung zur Verfügung steht? Sie werden erfinderisch! Der materielle Mangel kann aus politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Gründen entstehen, führt aber an verschiedenen Orten zu verwandten Szenarien: Wenn der Bürger die benötigten Alltagsgegenstände nicht einfach aus dem Warenregal pflücken kann, muss er mit dem Wenigen, das ihm zur Verfügung steht, improvisieren. Wie nützlich oder qualitativ hochwertig sein Hab und Gut ist, ist dann keine Frage des Einkommens mehr, sondern hängt davon ab, wie einfallsreich er ist. Und: Auch wer für die hiesigen Märkte Konsumgüter gestaltet, kann in puncto Materialeffizienz oder Langlebigkeit vieles lernen. Wir stellen Schauplätze vor, an denen der eigentliche Konsument zum Hersteller seines Produktes wird – und Gestaltung aus der Not heraus zum Volkssport avanciert.
Auch wenn wir uns angesichts des Überflusses in unseren Geschäften und Kaufhäusern realen materiellen Notstand kaum noch vorstellen können, ist die letzte Mangelsituation in Deutschland noch nicht allzu lang Geschichte. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Städte in Trümmern lagen, fehlte es am Lebensnotwendigen: Essen, Arbeit, Wohnraum, Sauberkeit und Ordnung. Ein Zustand, den man treffend als „Stunde Null“ beschreibt: eine Gesellschaft ohne funktionierende Wirtschaft, ohne Ressourcen und Produktionsstätten, in denen man Dinge für den Alltagsgebrauch hätte herstellen können. Denn weil sich während des Krieges die Fabriken vollständig auf die Produktion von Kriegsgerät umgestellt hatten, fehlten in den ersten Jahren nach Kriegsende selbstverständliche Gegenstände.
Und so wurde das nutzbar gemacht, was es im Überfluss gab: Gasmasken wurden zum Kerzenhalter und Zünderbuchsen zu Vasen. Aus Fallschirmseide wurden Taufkleider, aus groben Nahrungsmittelsäcken kratzende Pullover. „Stahlhelme zu Nachttöpfen“ ist ein bis heute geläufiger Ausspruch aus dieser Zeit, der die die oftmals groteske Verwandlung vieler Objekte belegt: Man sieht ihnen ihre kriegerische Vergangenheit an, durch die Umnutzung und Uminterpretation aber wurden sie entmilitarisiert und harmlos. Damit setzten die Produkte auch ein Zeichen, denn wenn in der Granatenhülse Blumen stehen, ist unter die Vergangenheit ein Schlussstrich gezogen. Vor allem aber hat die Produktwelt in diesen Jahren nach dem Krieg eine ganz andere Botschaft, als die uns Vertraute: Es gibt keine Ästhetik der Waren, es existiert keine Formensprache. Was die Objekte auszeichnet ist brutaler Funktionalismus.
Ausweitung der kreativen Zone
Während in Nachkriegsgesellschaften die Produkte vor allem aus dem gefertigt werden, was das Militär zurückgelassen hat, müssen die Mangelgesellschaften in wirtschaftlich benachteiligten Ländern mit den Ressourcen und Produkten zurechtkommen, die in der Natur oder auf den Märkten zu finden sind. Man beginnt nicht bei Null, sondern hat über viele Jahre Strategien und Konzepte entwickelt, die sich wie ein Virus verbreiten. Da wird beim Nachbarn abgeschaut, wie und aus was der sich seine Fernsehantenne zurechtgezimmert hat, man tauscht sich über die beste Konstruktion eines hölzernen Kinder-Fahrradsitzes aus und gibt den Freunden Bescheid, wenn es gerade wieder CD-Rohlinge zu kaufen gibt, die sich als Reflektoren zwischen die Fahrradspeichen klemmen lassen. So oder so ähnliche Szenen lassen sich in dem Land beobachten, das die Improvisation in Perfektion beherrscht: Kuba.
Lange hatte man auf der eigentlich fruchtbaren Insel verhältnismäßig wohlhabend gelebt. Doch mit dem Fall der UdSSR brach 1989 die Wirtschaft zusammen. Was darauf folgte, benannte die Regierung etwas umständlich als „Spezialperiode in Friedenszeiten“. Der Begriff beschreibt aber nichts weniger als das permanente Fehlen von Konsumgütern und Nahrungsmitteln. Die Kubaner passten sich dem Notstand an und behaupten von sich, seitdem das kreativste Volk zu sein. Ihre immer gültige Formel lautet: „Hay que inventar!“, also „Das muss erfunden werden!“. Was die Insel allerdings von vielen anderen Mangelgesellschaften unterscheidet, ist, dass es dem Kubaner an zwei wichtigen Dingen nicht mangelt: Er verfügt über eine gute Bildung und reichlich Zeit. Viele machen deshalb ihren Erfindungsreichtum zur Geschäftsidee. Deshalb finden sich in Kuba Handwerker, die es sonst nirgendwo gibt. Der eine fertigt aus alten LKW-Schläuchen neue fürs Fahrrad, ein anderer hat sich auf die Aufarbeitung alter Kloschüsseln spezialisiert, die auf Kuba gut und gern einhundert Jahre alt sein können.
Wenn der Topf aber doch ein Loch hat …
Auffällig an der Produktkultur in Mangelgesellschaften ist, dass die Lösung für ein und dasselbe Problem ganz unterschiedlich ausfallen kann. Jedes Produkt ist ein Einzelstück, ein Unikat. Für denjenigen, der in einer Überflussgesellschaft mit klaren Botschaften lebt, ist die Funktion des Produktes nicht immer sofort ersichtlich. Weil der Markt nur über ein sehr eingeschränktes Warenangebot verfügt, nimmt man die Dinge, die man kaufen kann und zweckentfremdet sie. Oft ist schon beim Erwerb klar, dass das Produkt eine neue Aufgabe bekommen wird. Die landesübliche Fernsehantenne Kubas besteht aus einem Aluminiumtablett, das an ein Kabel geklemmt und auf dem Dach montiert wird.
Nicht überall ist der Verknappung von Gebrauchsgütern allerdings so ausgeprägt wie auf der kommunistischen Karibikinsel. An anderen Orten entsteht sie zwar auch aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, wird aber gerade in ländlichen Gebieten durch mangelnde Infrastruktur und Subsistenzwirtschaft noch befördert. Wer im dörflichen Asien fernab von Straße oder Stromnetz wohnt, hat es schwer, an einen einfachen Plastikstuhl oder einen Satz Töpfe zu kommen. Was man besitzt, wird gut gepflegt und repariert – überall finden sich zum Beispiel Gartenstühle mit Prothesen oder Naht- und Klebestellen – oder einfach umgenutzt.
Schnell entwickeln sich aus Bewährtem Typologien, die sich nicht nur innerhalb eines Gebietes oder Landes, sondern auch global verbreiten. Wohl in fast allen wirtschaftlich schwach entwickelten Ländern dieser Welt gibt es Produkte aus alten Reifen – Schuhe, Mülleimer, Gefäße oder Schaukeln. Ebenso populär ist der Eimer oder Kanister, denn er kommt beim Kauf vieler Produkte quasi als Zugabe mit Mehrwert mit und wird ohne seinen ursprünglichen Inhalt einem neuen Leben zugeführt. Nur geringfügige Modifikationen machen aus ihm einen Waschzuber, einen Fischkorb mit Zugnetz, eine Kehrschaufel oder Gießkanne. Was bei uns bestenfalls als Notlösung durchgeht, gehört in vielen Ländern zur alltäglichen Produktkultur.
Inspiration Mangelgesellschaft
Interessant zu beobachten ist, dass die Gestaltung „aus der Not“ mittlerweile auch Einzug in die Kataloge westlicher Möbelfirmen – und damit in die Überflussgesellschaft – gefunden hat. Designer wie die Brüder Humberto und Fernando Campana gestalteten für Artecnica eine geflochtene Schale, deren Rand von einem alten Mopedreifen aus Indien gebildet wird, Tord Boontje zerschnitt alte Glasflaschen zu dekorativen Vasen. Sicherlich – ein schönes Zitat. Produkte, die Geschichten erzählen und Designer, die ein persönliches Statement zur Lage der Profession abgeben: „Wir wollen nicht mehr nur Neues gestalten, damit Neues gekauft wird, damit nicht mehr so Neues weggeworfen wird.“ Doch auf dem Weg dorthin geht ihnen ein anderer grundlegende Gedanke verloren. Denn unser schier grenzenloses Warenangebot führt dazu, dass praktische und kreative Problembewältigung kaum noch eine Rolle im Alltagsleben spielt – der verwöhnte Konsument ist kein inspirierter Bastler. Da es für alles schon eine Lösung gibt, muss er nicht grübeln, sondern schlägt stattdessen die passende Rubrik im Warenkatalog auf. Und auf einer der Seiten findet er dann auch die Vasenkollektion von Tord Boontje.
FOTOGRAFIE Tanja Pabelick; Stadtmuseum Herzogenaurach
Tanja Pabelick; Stadtmuseum Herzogenaurach
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