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Pur, aber mit i!

Ihre Möbel kennen keine Toleranzen: Porträt von Simone Spang und Ludger Köhler der Firma Piure.

von Jeanette Kunsmann und Stephan Burkoff, 20.12.2017

Elf Jahre sind keine Zeit für ein Möbelunternehmen. Viele von ihnen bauen auf jahrzehntelangen Traditionen auf. Ihre erste Dekade als Möbelhersteller haben Simone Spang und Ludger Köhler von Piure hinter sich. Die Unternehmer aus München können sich gute Chancen ausrechnen.

„Ihr seid doch wahnsinnig“, sagten die einen. „Das schaffen die nie“, dachten die anderen. „Wir sind verrückt“, wissen Simone Spang und Ludger Köhler. Die Logik schöner Systemmöbel war auf ihrer Seite, ebenso das nötige Know-how und die richtigen Kontakte. Denn was soll schon passieren, wenn sich drei Profis mit jeweils 20 Jahren Berufserfahrung zusammentun und von den Fehlern anderer lernen?

„Man kann nur eine Firma führen, die man auch selbst ist“, ist Simone Spang überzeugt. Die Grafikdesignerin hatte vor Piure in der Werbeagentur Spang Wunder (heute Wunderhaus) gearbeitet: als Creative Direktorin und als Partnerin. Während der Kampagnen für den Systemmöbelhersteller Interlübke lernte sie Ludger Köhler kennen, damals Geschäftsführer bei Interlübke.

Das ist über 18 Jahre her. Als Köhler eines Tages mit einem Generationenwechsel bei dem ostwestfälischen Unternehmen freigestellt wurde, fassten die beiden, zu der Zeit privat ein Paar, einen Entschluss: Sie wollten das Kastenmöbel in einer moderneren und radikaleren Weise weiterführen. Mit viel Mut, aber ohne eine Möbelfabrik im Rücken. Die mussten sie erst noch gründen. Als Dritter im Bund übernahm Dieter Hug den Vertrieb – ein Profi, der alle Händler kennt. Und natürlich waren da auch noch Freunde. Und die nötige Portion Glück. 2006 gegründet, zählt das Unternehmen Piure heute 25 Angestellte und ist weltweit das kleinste Unternehmen mit SAP-gesteuerten Abläufen.

Schönheit der Mathematik
Nur einen Steinwurf von der Münchner Szene-Gastronomie Schumann's Bar am Hofgarten entfernt, befindet sich das heutige Büro von Piure. Hinter den Gründerzeitfassaden duckt sich in zweiter Reihe ein ästhetisch strenger Riegel und bildet seine eigene kleine Welt. Die komplette untere Etage wird von Piure genutzt. (Die obere stehe eines Tages mal, wie Ludger Köhler verrät, als Option für weiteres Wachstum zur Verfügung.)

Das Büro erinnert an ein Aquarium, um so mehr, wenn an einem Tag wie heute der Regen auf die Glasflächen prasselt und an den Scheiben langsam herunterläuft. Glas und Transparenz spielen auch eine große Rolle bei den Möbeln von Piure. Sie sollen das sein, was man etwas „Leichtes für den Wohnraum“ nennt. „Es ist luxuriöses Understatement, und es soll eine gewisse Lässigkeit haben“, erklärt Simone Spang. „Für uns ist wichtig, dass jemand den Stauraum für seine Dinge, die er liebt, benutzt und sich das Möbel dabei aber im Raum zurücknimmt.“ Zwischen all den Systemen, Logik und Mathematik steckt aber auch etwas Poesie, wenn die Piure-Macher von der Schönheit sprechen, die zum Beispiel ein Material wie Parsol-Glas mit sich bringt: diesen Schimmer, der an einen blauen Sommerhimmel erinnert. Bei Piure kommt Parsol nicht nur wegen seiner Transparenz zum Einsatz, sondern auch, damit der zukünftige Besitzer sich mit seinem leichten Objekt an die unbeschwerte Zeit des Jahres erinnern kann.

„Wir versuchen, einem Kasten Feinheiten zu verleihen, um ein schönes Möbel zu schaffen“, erzählt Simone Spang. „Wie bei den italienischen Herstellern soll ein Möbel nicht nur eine Funktion, sondern auch Ästhetik haben.“ Für sie basiert die Logik schöner Möbel am Ende auf reiner Mathematik. Und Zahlen, das muss man wissen, sind der eigentliche Motor von Piure. Allein mit den zurzeit 100.000 aktiven Preisen, laufen Zahlen permanent im Hintergrund. Denn bei einem Systemmöbel, wie zum Beispiel der Serie Mesh von Werner Aisslinger oder der Möbellinie Nex, geht es neben der Gestaltung und den richtigen Proportionen vor allem um die Machbarkeit der Verarbeitung und darum, wie man die Toleranzen der einzelnen Teile verstecken kann. „Alles ist sehr kleinteilig“, sagt Spang, die bei Piure das SAP-System, die Cloud und die Buchhaltung verantwortet. „Wenn ich 86 Kolli (Einheiten) pro Schrank habe, bedeutet das am Ende etwa 4.500 Teile in der Stückliste.“ Ohne die passende Prozesssteuerung könnte das Unternehmen die Produktion seiner Systemmöbel niemals unter Kontrolle haben. Und dabei auch nie so effizient sein.

Ein Puzzle aus 20.000 Teilen
Die ersten Aufträge wurden noch mit einer Excel-Tabelle bearbeitet. „Heute haben wir SAP: In jedem Element steckt ein Chip“, sagen die beiden Gründer nicht ohne Stolz. Jedes Teil muss schon bei der Herstellung wissen, was es ist, und sich diese Information merken: Ob es mal eine Schublade werden soll und an der einen Seite deshalb zwei Löcher mehr braucht, oder ob es ein Regalboden mit 27 Fräsungen an der Unterkante wird. Alle Elemente laufen lange Zeit auf Montagebändern neutral durch die Fertigung und werden bis zum Ende gesteuert. Bohrungen, Gehrungen und Farben: Am Schluss sind es 20.000 Teile, die jedes für sich und alle zusammenpassen müssen. „In so ein System kann man nicht einfach eingreifen. Es explodiert!“

Da viele Kunden heutzutage mehr und mehr Auswahl wünschen, bedeutet das für die Hersteller mehr Komplexität: Die lässt sich nur über eine moderne Fertigung steuern. Aus diesem Grund betreibt der Münchner Systemhersteller keine eigene Fertigung, sondern strategische Partnerschaften, mit denen er zusammen kontinuierlich in die Technologie investiert. Die Produktionsleistungen werden an zwei Hightech-Betriebe in Deutschland vergeben, in München wacht man über die Qualität: vom Angebot bis zur Lieferung.

Für die SAP-Software hat Piure eine Sondergenehmigung bekommen. „Wir waren ja nur drei Leute“, sagt Köhler. „Zum Glück konnten wir einen Partner finden, ein Systemhaus, der das spannend fand“, ergänzt seine Geschäftspartnerin, „und gesagt hat: ‚setzen wir um!‘“ Auch die gesamte Versandsteuerung der Preislisten, Kataloge oder Einladungen läuft bei dem Münchner Unternehmen heute nur noch über die Datenbank. Ein Piure-Möbel ist so Hightech wie ein BMW oder ein iPhone, das tausendfach verkauft wird, es ist kein Handwerk, kommt nicht aus der Manufaktur. Denn es geht bei jedem Stück um Präzision. „Ich will ja auch nicht, dass jemand mein Auto zusammenschraubt“, sagt Simone Spang. „Es ist schon richtig so, dass es aus der Fabrik kommt.“

Jede Gehrung sitzt exakt
Warum die einzelnen Elemente keine Toleranzen zulassen dürfen, erklären die Unternehmer gerne und mit großer Begeisterung. „Bei einer Plattenstärke von nur fünf Millimetern auf einer Länge von 3,60 Metern kann man sich vorstellen, wie das aussieht. Sie ist so fein wie ein Grashalm: Da braucht es eine besondere Stabilität, damit die Platte plan liegt. Bei uns bekommt die Abdeckplatte eine speziell von uns entwickelte Metallmuffe, die nur leicht eingepasst wird, denn bei fünf Millimetern können wir auch nicht durchfräsen. Eine Platte sitzt auf 27 solcher Muffen – je nachdem, wie lang sie ist.“ Jede Platte muss dann passgenau hergestellt sein und sitzt später auf Spannung, damit sich die Oberfläche nach dem Lackieren nicht wölbt. „Und dann muss man aber trotzdem am Ende den nötigen Spielraum lassen, um die Gehrungen und andere Elemente eines aufgebauten Sideboards ausgleichen zu können“, erläutert Ludger Köhler. „Alles muss genau zusammenpassen, es muss fest und zugleich beweglich sein: Das ist eine wahre Kunst!“

Jede Gehrung sitzt exakt, es bleibt kein Millimeter Toleranz. Damit am Ende trotzdem beim Aufbau alles passt, sorgt eine Feder zwischen Außenseite und Korpus für den möglichen Ausgleich. „Holz ist wirklich fies, weil kein Brett dem anderen gleicht. Es ist unmöglich, exakt identische Platten herzustellen“, sagt Simone Spang. „Stahl hingegen bleibt auf einen My gleich, aber sobald man mit zwei Materialien arbeitet, zum Beispiel Stahl und Glas, wird es noch extremer.“ Versteht man die Qualität von Piure denn auch ohne dieses Hintergrundwissen? „Der Kunde sieht diese Qualität in der Schönheit des Produkts“, sagt die Chefin des Hauses überzeugt. „Was wir beherrschen, ist das Bild der Möbel und ihre Inszenierung. Vor dem Kauf ist es ja im Grunde nicht mehr als ein virtuelles Produkt. Es läuft ja alles nur über Teile.“ Geliefert wird an den Händler innerhalb von sechs bis sieben Wochen. Der spielt immer noch eine wichtige Rolle, denn: „Man braucht bei einem Kauf auf dem Preisniveau jemanden, der einem auf die Schulter klopft und sagt: ‚Gut gemacht‘“, entgegnet Simone Spang. „Man kauft ja keinen Pulli, sondern ein Möbel für 10.000 Euro!“

Systemmöbel mit Haltung
„Unser Name sagt es ja schon“, meint Ludger Köhler, „dass wir klar sind, logisch denken und handeln. Darum ja auch Pure, aber ein bisschen mehr, deshalb kommt das i noch dazu. So wird es noch ein bisschen subtiler, wir wollten weg von diesem typisch Deutschen. Nur in puncto Qualität und Service wollen wir unsere deutsche Identität behalten.“ Die Essenz des Herstellers in wenigen Worten? „Understatement. Ein Systemmöbel mit Haltung, High-End und luxuriös, aber nicht elitär.“ Die Piure-Möbel bewegen sich dabei immer wieder in Grenzbereichen. Zum Beispiel das System Nex: „Es unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von anderen Stauräumen. Aber wir waren die ersten mit einer fünf Millimeter starken Abdeckplatte auf Gehrung! In der Konsequenz machen das nur wir.“ Es folgte das Nex Pur-Programm: eine Art Liberalisierung durch eine Senkung des Preises. „Damit waren wir auch unter den Ersten, die in den Online-Markt gegangen sind, um gutes Design schnell und zu einem vernünftigen Preis zu liefern.“

Ein Produkt braucht Entscheider, weiß Ludger Köhler. 2016 kam Mesh, gestaltet von dem Berliner Designer Werner Aisslinger, vorgestellt auf der Orgatec in Köln: „Keine Revolution, aber trotzdem sind wir mit dem System in neue Bereiche vorgestoßen“, sagt Köhler. Simone Spang schüttelt den Kopf: „Wenn man ein Kastenmöbel mit Alurahmenmodell und Glas haben will, da ist Mesh schon eine kleine Revolution!“

Nach so viel Erfolgsgeschichten wollen wir auch noch kurz über das Scheitern sprechen, über Krisen und Risiken, die man als Unternehmer eingeht. „Das größte Risiko war für uns, in die Märkte zu kommen“, erinnert sich Ludger Köhler. „Gleich 2006 hatten wir die ersten Krisenjahre. Die können einen ganz schön wegdonnern!“ Er macht eine Pause. „Natürlich haben wir auch eine Reihe von Veränderungen erlebt: Wir hatten zum Beispiel gerade unsere Produktion in der Schweiz aufgebaut, da fiel die Euro-Bindung: Ui!“ Wer sich selbstständig machen will, solle alles ausprobieren, „aber man muss realistisch bleiben“, meinen die beiden. „Das, was wir gemacht haben, war schon riskant. Das beachtet man am Anfang natürlich nicht, weil man einfach anfängt.“ Diese Krisen hat Piure überstanden. „Wir sind keine Leute, die den Kopf in den Sand stecken, sondern die, die dann sagen: Jetzt erst recht! Und ehrlich gesagt: Ein bisschen Glück gehört auch immer dazu“, zwinkert Ludger Köhler.

In einem komplexen System wie bei Piure brauchen kleinste Änderungen viel Zeit, weil alles miteinander zusammenhängt. Aber Simone Spang und Ludger Köhler haben keine Angst, im Gegenteil: Der Apparat steht unter voller Kontrolle. Und sie sind sich beide einig: Die besten Jahre von Piure kommen noch.

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