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Suche nach der Strategie

In Mailand beobachteten wir das Profil einer Branche und stellen fest: Vorsicht, Verwechslungsgefahr!

von Jörg Zimmermann, 15.04.2014

„A new vocabulary of design“ – in einem alten Palazzo in der Mailänder Innenstadt hat der Hersteller Eoq aus Hongkong seinen vielversprechenden Markenclaim an die Wand geschrieben. Design neu buchstabieren, eine andere Sprache finden für das Wohnen heute und morgen. Eine naheliegende Idee und ein Ausdruck der Hoffnung zugleich. „A new vocabulary of design – so muss wohl die höfliche Bitte der Kunden an die Designer, Hersteller und Händler dieser Welt lauten, die jeweilige Profession (wieder) ernst zu nehmen, weil die Kunden selber ernst genommen werden möchten.

Zum Leidwesen der Design liebenden Kundschaft hat die Branche seit Jahren schleichend an Profil verloren, von den Journalisten meist wortlos beobachtet, von Kritikern und Kuratoren nur vereinzelt angemerkt. Die Erosion der Unverwechselbarkeit hat die großen Möbelmarken vielleicht am meisten getroffen. Deren Unternehmensideen, die sich über die Jahre zu eindeutig zuordenbaren Produktlinien verdichteten, haben ihre Strahlkraft unübersehbar eingebüßt. Ganze Markenphilosophien scheinen in Auflösung begriffen. Statt nach starken Entwürfen, die über die Zeit zu wahren Designikonen reifen, suchen die Unternehmen nach großen Namen in der Gestalter-Zunft. So wurde die überschaubare Kleingruppe der „Hausdesigner“ mit den Jahren ersetzt durch ein Personalkarussell der „Stardesigner“. International gefragte Entwurfslegionäre – ein, zwei Dutzend vielleicht –, die überall ihre gestalterischen Spuren hinterlassen. Die Motivation hierfür bleibt rätselhaft, denn die wirtschaftliche Entwicklung vieler Unternehmen bestätigt nicht zwingend dieses Modell. Womöglich ist es die Suche nach vermeintlicher Sicherheit, eher nicht der Drang nach gestalterischem Experiment. Der Zwang zum kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolg ersetzt offenkundig die strategische Perspektive.

Designer voran
Keine Frage, die Großmeister der Gestaltung liefern Jahr für Jahr eine Vielzahl an erstaunlichen Entwürfen. Manche durchaus ausgestattet mit Potential, einen schnellen Trend oder eine kurze Mode zu überdauern, andere eher für das Hier und Jetzt skizziert. Aus der Menge der Entwürfe, wie gerade beim Salone del Mobile zu beobachten, leuchten allerdings plötzlich weniger die Unternehmen als Marken, der Glanz haftet den Designern an. Nicht die Unternehmensmarke gibt heute die Orientierung, die Designer werden zu möglichen Leitfiguren für den Lebensentwurf.

Liaison oder Geschäftsmodell
Schauen wir exemplarisch mal bei den Stühlen etwas genauer hin. Chair One hatte Konstantin Grcic einst sein unverwechselbares Meisterstück getauft. Eine kantige Ikone, geboren aus einer persönlichen Haltung und einem zeitlichen Kontext heraus, die bis heute Referenz ist für viele Entwürfe, die von einer bestehenden Formensprache abweichen. Und das produzierende Unternehmen? – Magis. Fast nur Experten wissen das. Ein origineller Entwurf eines renommierten Designers. Und das Unternehmen profitiert am Ende wirtschaftlich davon. Eine einmalig glückliche Liaison oder doch ein alltagstaugliches Geschäftsmodell? Meist geht die Gleichung wohl nicht ganz auf.

Vorsicht, Verwechslungsgefahr
So erscheinen viele Stühle glücklos, die in Mailand das Label „Neuheit“ tragen. Neu für das präsentierende Unternehmen, ja. Neu im Sinne eines unterscheidungsfähigen Entwurfs, der den Produzenten ein deutliches Alleinstellungsmerkmal verschafft und damit längeren geschäftlichen Erfolg verspricht, eher nicht. Überraschend häufig trifft man aktuell auf eine Kombination aus Kunststoff und Holz. Ein vierbeiniges Holzgestell, gekrönt von einer Sitzschale aus Kunststoff. Mal mit, mal ohne Armlehne, die gepolsterte Sitzfläche als Option. Farbe geht immer. Der Baukasten steht. Eine Vielzahl von Optionen, Überfluss. Könnten und sollten Marken nicht als Wegweiser dienen, bei der Suche nach dem eigenen Einrichtungsstil? Oder spiegelt hier die Tiefe der Produktportfolios nur das gesellschaftliche Credo „Alles geht“? Individualität erkauft durch Austauschbarkeit? Ein zweifelhaftes Konstrukt.

Lernen vom Norden
Es reicht heute auch längst nicht mehr, über die Nachhaltigkeit der eigenen Produktpalette lediglich nachzudenken. Die erfolgreiche Fertigung und Vermarktung von Produkten, Möbeln, Stühlen erfordert mehr denn je ein verantwortliches Umdenken. Oder den unbeirrten Glauben an die eigene Unternehmensidee. Ein Blick nach Norden – nach Schweden oder Dänemark beispielsweise – zeigt, dass es geht. Klare Entwürfe dominieren dort. Design, das Ideen eine eigenständige Form gibt. Entwürfe von Stühlen meist aus Holz und doch immer wieder überraschend und erfreulich anders. Nicht Zeitgeist, ehrliche Nachhaltigkeit spielt dort bei der Produktentwicklung und bei der Fertigung eine Rolle. Ein wahres Glück für diese Hersteller, dass die Langlebigkeit von Möbeln und deren nachhaltige Produktion längst vom elitären Habitus zur gesellschaftlichen Notwendigkeit gereift ist.

Die interessanten Impulse werden im Möbel- und Interiordesign heute wieder an den Rändern gegeben, vielleicht war das auch immer so. Dort wo Unternehmen Mut aufbringen, den eigenen Ideen zu folgen statt dem vermeintlich sicheren Markterfolg hinterher zu laufen. Auch das neue Label Eoq aus Hongkong hat einen Stuhl im Programm. Der Entwurf trägt den Namen Shindo und ist aus zwanzig Lagen Carbonfasern gefertigt. Ein schwarz glänzender, federleichter Hightech-Beitrag des Designers Michael Young zum „new vocabulary of design“.

Alle Stuhl-Beispiele finden Sie in der Bildergalerie über diesem Text.

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