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Zwischen Beten und Bauen

Entweihte Kirchen als spannende Gestaltungsaufgabe.

Was tun, wenn der letzte Psalm verklungen ist und die Kirchenbänke leer bleiben? Die Frage, was mit Kirchen geschehen soll, die nicht mehr gebraucht werden, ist aktueller denn je. Da viele Gemeinden darauf kaum eine Antwort haben, verhelfen immer mehr Investoren, Denkmalschützer und private Bauherren den heiligen Hallen mit ganz weltlichen Umnutzungen zu neuem Glanz – und damit zu neuer Bedeutung.

von Toni Kny, 01.03.2016

Während sich die Reichweite der Kirche früher auch auf viele außerreligiöse Bereiche des Lebens erstreckte, und sie damit auch als treibende Kraft von Kulturentwicklung und gesellschaftlicher Entfaltung eine wichtige Funktion einnahm, spielt sie heute im Alltag vieler Menschen kaum mehr eine Rolle. Als zentraler Ort, an dem die eigene Existenz im Angesicht Gottes verhandelt wird, hat die gebaute Kirche scheinbar für viele kaum noch etwas zu bieten; attraktive Freizeit- und Bildungsangebote werden nicht mehr in der Gemeinde gesucht, sondern als Antworten auf irdische Bedürfnisse vor den Kirchentüren gefunden. So verlieren immer mehr Kirchen ihre Bedeutung, viele werden geschlossen oder bisweilen sogar abgerissen. Kurzum: Im Zuge der stetig fortschreitenden Säkularisierung wird nicht nur am Selbstverständnis des Klerus, sondern auch an der Identität der Gebäude gehörig gerüttelt. Was also tun mit den meist denkmalgeschützten Bauten?

23 Wohnungen für ein Halleluja
Eine mögliche Lösung liefert die Herz-Jesu-Kirche in Mönchengladbach-Pesch. Ganz im Sinne christlicher Nächstenliebe wurde die 1903 von Kirchenbaumeister Josef Kleesattel entworfene, dreischiffige neugotischen Backsteinbasilika zu einer öffentlich geförderten Wohnstätte für Bedürftige umgebaut. Auf einer Gesamtfläche von 1.560 Quadratmetern leben nun Rentner, Studenten, Alleinerziehende und junge Paare in einer ungewöhnlichen Mischung aus historischer Bausubstanz, zeitgenössischer Architektur und moderner Gebäudetechnik. Um den vollständigen Erhalt der denkmalgeschützten katholischen Pfarrkirche zu gewährleisten, entwickelte das ortsansässige Architekturbüro B15 ein besonderes Haus-im-Haus-Konzept, das als vom Bestand unabhängige und reversible Holzskelettkonstruktion realisiert wurde. Das Ergebnis sind 23 barrierrefreie, quietschbunte Wohneinheiten auf vier Ebenen, erreichbar über stählerne Treppen, Galerien und einen gläsernen Fahrstuhl im Mittelschiff, behutsam eingebaut, ohne die immer noch präsente sakrale Atmosphäre zu stören. Alt und neu prallen hier nicht als Gegensätze aufeinander, vielmehr bilden sie eine spannungsvolle Verbindung, die nicht von kulturellem Verlust, sondern von einer vorwärtsgewandten Gegenwart kündet.

Der Umbau des profanierten Gotteshauses in der Ruhrstadt scheint angesichts der sinnvollen Nutzung und der gleichzeitigen Bewahrung als Orientierungspunkt im Stadtbild ein absolutes Win-win zu sein – davon zeugt die mehrfache Auszeichnung des Entwurfs, unter anderem mit dem Sonderpreis FIABCI Prix d’Excellence Germany 2014, der vor allem Aspekte wie urbane Integration, Nachhaltigkeit und Innovation berücksichtigt. Dennoch sind Projekte wie die Neugestaltung der Herz-Jesu-Kirche immer noch eine Ausnahme in Deutschland. Denn für Architekten und Projektentwickler ist der Umbau einer Kirche hierzulande mit scharfen baurechtlichen Auflagen verbunden, die zwar erforderlich sein mögen, deren Einhaltung aber aufwändig und oftmals auch kostspielig ist.

Kommerzielle Auferstehung
In den Niederlanden, wo es mittlerweile fast mehr Kirchen als Kirchgänger gibt, ist das Thema Umnutzung eine weniger delikate Angelegenheit. Zwar wird auch hier die Gefährdung des Kulturwertes der Kirche durch Umwidmungen wahrgenommen. Doch dem Bedauern der Gemeinden über die Schließung ihrer Kirchen steht die Freude über deren Erhalt entgegen, die beinahe so groß ist wie das kommerzielle Interesse an den besonderen Immobilien. Denn das massive Kirchensterben ist in dem stark entchristlichten Land längst zum lukrativen Geschäft geworden. Anders als in Deutschland gibt es hier für den Verkauf ehemaliger Gotteshäuser nämlich kaum Richtlinien, was sich deutlich in einem immensen Spektrum unterschiedlicher Nutzungen zeigt. Es finden sich allerhand Beispiele – von Kletterhallen über Nachtclubs und Hotels bis Yogazentren – die sich die weihevolle Atmosphäre sakraler Architektur als imagewirksames und gewinnbringendes Extra zu Nutze machen.


Nicht das letzte Abendmahl
Wie gut das funktioniert, ist auch in Antwerpen zu erleben. Dort hat das Amsterdamer Designstudio Piet Boon die Kapelle eines ehemaligen Militärkrankenhauses aus dem 19. Jahrhundert in einen angesagten Gourmettempel verwandelt. Das Konzept von The Jane, ein Restaurant in Sternequalität, verspricht dem geneigten Gast das Erlebnis eines divine dining, also „göttliches Speisen“ und spielt so gewissermaßen auch mit einem Tabu. Denn die verheißungsvolle Botschaft des sinnlichen Genußerlebens in einem Gotteshaus ist für Gläubige sicherlich eine Grenzüberschreitung.

Um die Authentizität des Ortes zu unterstreichen, wurden bei dem Umbau nur die für den Erhalt der Substanz unbedingt notwendigen Elemente instandgesetzt und durch wenige, aber außergewöhnliche Einbauten ergänzt. Zwischen der abblätternden Farbe des unrestaurierten Gewölbes und dem gemusterten historischen Fliesenboden liefern eigens angefertigte Buntglasfenster mit Abbildungen von Babies, dem gekreuzigten Jesus, Croissants, Pinguinen, Gasmasken und Geburtstagstorten zeitgenössische Interpretationen biblischer Geschichten über Gut und Böse, Arm und Reich oder Leben und Tod. An der Stelle des vormals wichtigsten Bereichs des Gebäudes – des Altars – befindet sich nun bezeichnenderweise die Küche in einem gläsernen Kubus; die modernen Möbel, sind – ähnlich wie die hier kredenzten Gaumenfreuden – aus reinen, aber ausgewählten Zutaten komponiert: schlichtes Leder und edles Eichenholz. Das Konzept, mit einer gewagten Kreuzung aus morbidem Charme, stimmig kuratierter Schlichtheit und einer Prise Rock’n’ Roll ein Kirchengebäude zum dernier cri zu machen, scheint aufzugehen: Die Wartezeit für einen Tisch beträgt mehrere Monate.

Schmökern statt Beten
Das Beispiel aus Antwerpen zeigt, wie schmal der Grat zwischen unternehmerischem Kalkül und kultureller Verträglichkeit sein kann und wie schwierig die Vereinbarkeit von Substanzerhalt und innovativer Gestaltung. Dass trotz der Unkenrufe von geistlichen Skeptikern auch die Niederländer durchaus behutsam mit ihrem historischen Erbe umzugehen wissen, stellt der Umbau der Broerenkerk in Zwolle eindrucksvoll unter Beweis. Auf insgesamt 1.300 Quadratmetern beherbergt die 1466 als dominikanisches Kloster erbaute und seit den 1980er Jahren leerstehende Kirche nun die moderne Buchhandlung Waanders In de Broeren, deren Bekanntheit bis weit über die Stadtgrenzen hinaus reicht. Denn mit ihrem einfachen und dennoch ausgereiften Konzept gelang es den verantwortlichen Architekten Jos Burger und Wouter Keijzer von BK.Architecten, die zuweilen inhaltlichen Nähe von Geistigem und Geistlichem in eine für den Kunden erfahrbare, räumliche zu übersetzen.

Hauptverantwortlich für das besondere Kauferlebnis ist ohne Zweifel der historische Wert des Gebäudes, der durch die dreigeschossige, zwischen den Säulen des Seitenschiffes eingezogene und reversibel konstruierte Verkaufsfläche weder optisch noch physisch tangiert wird. Um der sakralen Architektur angemessenen Respekt zu zollen, beschränken sich die sachlich-zurückhaltende Einbauten aus Holz auf meterlange, dunkle Bücherwände, sowie eine zentrale Treppe, die den Besucher der mit filigranen Deckenbemalungen geschmückten Weite des Mittelschiffes ein kleines Stück näher bringt. Dass sich der Besucher, überwältigt von den enormen Raumdimensionen und dem reichen Bücherangebot, für eine Verschnaufpause in dem angegliederten Café niederlässt, ist die wohlkalkulierte Absicht eines gewinnorientierten Unternehmens. Dass er währenddessen seine Augen wahlweise auf dem vom norwegischen Künstler Kjell Nupen entworfenen Fensterbild am einen, oder der prächtigen, originalerhaltenen Orgel am anderen Ende des Kirchenschiffs ausruhen kann, ist gute Gestaltung.

Ideen zum Niederknien
Dass das Ergebnis eines Kirchenumbaus so sinnreich und gediegen gelingt, wie im Falle der Broerenkerk, ist sicher nicht immer zu erwarten. Denn der gleichzeitige Erhalt einer Kirche als Baudenkmal und das Schaffen eines Mehrwertes für Anwohner und Touristen ist eine Aufgabe, die viel Umsicht und Fingerspitzengefühl erfordert.

„Wie herrlich sind deine Wohnungen, allmächtiger Herr.“ (Ps 84,2), steht schon im Johannes-Evangelium geschrieben. Ob damit auch Büros, Freizeitstätten, luxuriöse Hotels oder karitative Einrichtungen wie Altenheime gemeint sind? Wer weiß. Dennoch beanspruchen die Anforderungen des modernen Lebens und die Bedürfnisse der Gesellschaft physischen Raum. Zum Wohnen, für Kreativität, Genießen, Lernen, Arbeit und Selbstbestimmung. Entweihte Kirchen durch die Wiederbelebung mit neuen Nutzungskontexte so zu gestalten, dass sie zu Orten werden, wo diese Dinge möglich sind, bleibt in jedem Fall eine spannende gestalterische Aufgabe – das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

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