Zwischen Design und Desaster
Experiment und Improvisation im Gestaltungsprozess

Manchmal ist eine Idee größer als die Realität. Manchmal ist das Schicksal ein unerwarteter Komplize. Manchmal wartet Inspiration an den seltsamsten Orten. In der Gestaltung spielen Zufälle und Unfälle eine wichtige Rolle. Am Ende kann der Umweg über den Holzweg Designer*innen unerwartet – aber erfolgreich – zum Ziel führen.
Experiment und Improvisation gehören zum Entwurfsprozess vieler Gestalter*innen. Denn anders als in anderen Professionen ist ihr Job von Projekt zu Projekt nur eingeschränkt reproduzierbar. Designer*innen sollen eben nicht bereits Existierendes deklinieren, sondern Innovatives erschaffen. An vielen Kunsthochschulen gehört (ganz im Geiste des Bauhauses) der abstrakte Zugang genauso zur Ausbildung wie die konkrete Auseinandersetzung mit einer Problemstellung. Materialien und Werkzeuge werden zweckentfremdet, Inspiration aus ungewöhnlichen Quellen gewonnen. Eine Strategie, die mittlerweile auch in vielen Unternehmen angekommen ist.
Der Bereich des „Design Thinking“ mischt mit dem erstmal ziellosen Weg kreativer Prozesse starre Behördenstrukturen und eingefahrene Gewohnheiten auf. Für Designer*innen ist der Zugang über die Improvisation allerdings nicht immer ein spaßiges Unterfangen, denn Faktoren wie Zeit und Kosten sind damit schwer zu kalkulieren. Erst in der Rückschau zeigt sich, ob die Umwege im Design oder im Desaster münden. Aber: Unsere Anekdoten aus der Designgeschichte belegen nicht zuletzt, dass Fehlschläge in der Regel die bessere Geschichte sind. Alle Macht dem Zufall!
Blow Chair
Wenn Möbel gleich mit einem Reparaturset geliefert werden, dann kann man daraus Rückschlüsse auf die Lebensdauer ziehen. Trotz seines mitgelieferten Klebe-Kits wurde Zanottas aufblasbarer Blow Chair auf der Mailänder Möbelmesse im Jahr 1968 aber begeistert aufgenommen. Entworfen hatten ihn Jonathan De Pas, Donato D’Urbino und Paolo Lomazzi gemeinsam mit Carla Scolari – und die Designer machten auch schnell die größte produktionstechnische Herausforderung der transparenten Kunststofffolie aus: Sie konnte nicht verklebt werden, sondern wurde thermisch verschweißt. Kaum aus der Fabrik, warteten auf das Möbel dann die eigentlichen Probleme: Rauchende Partygäste. Haustiere mit Krallen. Schlüssel in Hosentaschen. Und dann erst das Alter: Mit der Zeit wurde das PVC spröde – und Lecks waren kaum noch zu verhindern. Über die Jahrzehnte ging der Stuhl mehrfach in Produktion, nur um alsbald wieder eingestellt zu werden. Dabei waren es vielleicht gerade seine Makel und Zicken, die ihn zur Ikone machten. Denn der Mangel an Bequemlichkeit erlaubte im Gegenzug einen flexiblen und dynamischen Lebensstil. Und diese Botschaft hat auch heute noch ihren Preis: Während der Stuhl damals für knapp 20 Dollar angeboten wurde, kosten die anfälligen Originale aus den Siebzigerjahren heute selten unter 1.000 Euro.
Bubble Wrap
Luftpolsterfolie hilft gegen schlechte Laune (plopp!) und schützt alles Zerbrechliche vor den rabiaten Angewohnheiten der Paketdienstleister. Im Jahre 1957 wollten die beiden Schweizer Alfred Fielding und Marc Chavannes eine texturierte Tapete für die Beat-Generation entwerfen. Dazu versuchten sie, zwei Duschvorhänge unter Hitze aufeinander zu schweißen. Das Ergebnis erwies sich zuerst als funktionaler Fehlversuch. Zwischen beiden Materialien hatten sich kleine Luftbläschen gebildet. Die Forscher erkannten allerdings genau darin Potenziale und ersannen daraufhin über 400 mögliche Einsatzfelder – etwa die Dämmung von Gewächshäusern. Erst 1960 fanden sie eine endgültige Lösung – und verkauften das Produkt als Bubble Wrap an IBM, die darin ihren 1401-Rechner (das erste Fließband-Modell der Computerindustrie) einpackten. Der Rest ist Geschichte.
Panton Chair
Verner Panton war seiner Zeit voraus. Gut dreißig Jahre, um genau zu sein. Ende der Fünfzigerjahre entwarf der Designer ein Objekt wie eine einzige, fließende Bewegung, einen Freischwinger wie aus einem Guss. Nur: Zu produzieren war er nicht. Zwanzig Hersteller sagten ihm ab, bis Panton mit Rolf Fehlbaum einen Verbündeten in der Mission Monoblock fand. 1968 konnte der Stuhl schließlich produziert werden, gemeinsam hatte man die optimale Form für den Kunststoffguss entwickelt. Aber: Die Stühle wurden schnell brüchig und ihre Produktion bereits nach zehn Jahren eingestellt. Allerdings war der technologische Fortschritt in der Kunststoffindustrie auf der Seite Pantons: Seit 1990 produziert Vitra den Freischwinger aus Polyurethan, seit 1999 gibt es ihn zusätzlich in Polypropylen. Für Vitra eine gute Investition in ein einstiges Gestalter-Traumschloss: Der Panton Chair ist heute eine Designikone unter den Sitzmöbeln.
Lavalampe
Mit ihrem psychedelischen Gewaber und ihrer Raketen-Silhouette kann die Lavalampe nur ein geistiges Kind der späten Sechzigerjahre sein. Seit über fünf Jahrzehnten ist sie als atmosphärische Alternative zu Fernseher und Aquarium allgegenwärtig. Doch wer kam eigentlich auf die recht abseitige Idee, Wasser, Wachs und Glühbirne in ein Wohnaccessoire zu verwandeln? Der Brite Edward Craven Walker, ein ehemaliger Pilot und Buchhalter, Produzent nudistischer Unterwasserfilme und Besitzer eines Feuerwehrautos, besuchte in den Nachkriegsjahren einen Pub in Dorset. Hier entdeckte er eine Eieruhr aus einem alten Cocktail-Shaker auf dem Herd, darin blubberten zwei Flüssigkeiten. Walker nahm sich der Idee an, machte aus dem Zeitmesser aber ein Lichtobjekt. Nach einiger Entwicklungsarbeit kam 1963 die erste Astro Lamp von Mathmos auf den Markt. Benannt wurde das Unternehmen nach der blubbernden Lava aus dem Film Barbarella. Zwei Hypes (in den Siebzigern und in den Neunzigern) und einige ökonomische Tiefphasen hat die Lampe schon hinter sich – und blubbert doch noch heute.
Plywood Group
DCW, LCM, DCM: Hinter den Buchstaben-Trios erkennen Designliebhaber sofort die Codes für Formholzstühle des Ehepaars Eames, die heute bei Vitra verlegt werden. Charles und Ray Eames experimentierten jahrelang mit Schichtholz und verwandelten ein eigentlich starres Material in ergonomisch geschwungene Sitzschalen. Tatsächlich war ursprünglich ein dritter Designer an Bord. Der Architekt Eero Saarinen, Freund der Familie, experimentierte 1940 gemeinsam mit Charles Eames und entwarf mit ihm eine Möbelgruppe für das MoMA, das in einem Wettbewerb Lösungen für „Organic Design in Home Furnishing“ suchte. Die beiden gewannen, aber die serielle Fertigung wurde aufgrund des Kriegseintritts der Amerikaner verschoben. Saarinen wandte sich anderen Projekten zu, Charles Eames hingegen entwickelte Bein- und Armschienen aus Sperrholz für die United States Navy. Was er dabei an ergonomischen und technischen Erkenntnissen mitnahm, sieht man den bis heute beliebten Stuhlikonen an. Die allerdings konnte Eames erst nach dem Krieg entwerfen, ohne Saarinen als Partner, aber gemeinsam mit seiner Frau Ray.
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