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Architektenstühle

Architektenstühle: Wie man einen Designklassiker entwirft und warum sich Kreativität nicht planen lässt.

von Jeanette Kunsmann, 30.04.2014

Nehmen Sie Platz! Wir begeben uns auf eine Zeitreise zu einer Besonderheit in der Designgeschichte bis in die Gegenwart, dem sogenannten Architektenstuhl. Über die Architektur des Sitzens, wie ein Stuhl zum Designklassiker wird und warum sich Kreativität nicht planen lässt. Außerdem am Ende dieses Artikels: Neun Lektionen, auf die Sie achten sollten, wenn Sie als Architekt einen Stuhl entwerfen möchten.

Architektur als Gesamtkunstwerk: Alvar Aalto, Frank Lloyd Wright, Karl Friedrich Schinkel, Henry van de Velde, Le Corbusier oder Lina Bo Bardi – wir kennen die Stühle der Architekten, die für ihre Bauten das passende Mobiliar gleich mit entworfen haben. Elegante Freischwinger von Mies van der Rohe, harte Geometrie zum Sitzen von Max Dudler oder die heute in Kunststoff neu aufgelegten Fiberglas-Armchair- und Sidechair-Reihen von Charles und Ray Eames – das Design von Stühlen hat Architekten immer wieder fasziniert und tut es auch heute noch. Internationale Größen wie Shigeru Ban, Herzog & de Meuron, Ben van Berkel, Zaha Hadid, Daniel Libeskind oder David Adjaye, der auf dem Salone de Mobile in Mailand gerade seinen neuen Stuhl für Knoll International vorgestellt hat, aber auch gestandene Büros wie gmp, Peter Zumthor, David Chipperfield oder Jean Nouvel entwickeln regelmäßig neue Stuhlentwürfe für Bauherren und Hersteller.

Gut gemeint ist noch nicht gut gekonnt
Ein hochgelobter Architekt zu sein heißt nicht, dass man automatisch ein ebenso guter Designer ist. Es gilt, Respekt vor der anderen Profession zu zeigen. Rem Koolhaas, Peter Zumthor und Meinhard von Gerkan haben ohne Frage wunderbare Gebäude entworfen – ihre Möbel hingegen sehen durchschnittlich und langweilig aus. Auch Norman Fosters Wartestühle wirken kühl und abweisend, David Chipperfields bunte Klappstühle könnten auch bei Ikea stehen, und bei Wiel Arets ist das Gebaute ebenfalls um Längen besser als seine klobigen Kunststoffmöbel. Zwei notorische Design-Spezialisten sind jedes Jahr in Mailand dabei: Ben van Berkels UN Studio beweist bei seinen Sitzmöbeln viel Ausdauer und stellt stets neue Designentwürfe vor. Und die Blobskulpturen von Zaha Hadid möchte man am liebsten gar nicht kommentieren – warum man ihr Sofa sofort als Hadid-Entwurf erkennen kann, ist (leider) allzu offensichtlich.

Gesellschaft und Stadt en miniature
Sitzen ist Macht: Der Stuhl als Thron war lange nur Königen, Kaisern und Pharaonen vorbehalten. Versteht man das Sitzen als kulturelle Errungenschaft, hat ein Stuhl eine ähnliche Bedeutung wie ein Gebäude – schließlich wohnt der Mensch nicht mehr in Höhlen und sitzt auch nicht mehr auf dem Boden. „Man könnte sagen, wenn wir einen Stuhl entwerfen, schaffen wir eine Gesellschaft und eine Stadt en miniature“, hat Peter Smithson 1986 über den Typus Architektenstuhl geschrieben. „Sicherlich ist dies noch nie so deutlich gewesen wie in diesem Jahrhundert. Man bekommt eine ganz klare Vorstellung von der Art der Stadt und der Art der Gesellschaft, die Mies van der Rohe im Auge hatte, wenn er selbst sich dazu auch nicht weiter geäußert hat. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Mies-Stadt im Kleinen im Mies-Stuhl enthalten ist.“

„Ein Stuhl ist ein sehr schwieriger Gegenstand“, meinte hingegen Mies van der Rohe selbst. „Wer jemals versucht hat, einen Stuhl zu entwerfen, weiß wovon ich spreche. Es gibt endlose Möglichkeiten und viele Probleme – der Stuhl muss leicht sein, stabil und bequem. Es ist einfacher, einen Wolkenkratzer zu entwerfen als einen Stuhl.“

Der Stuhl als Bühne der Architekten
Dennoch oder gerade deshalb: Fast alle Architekten haben sich am Sitzmöbel versucht. Dass ein Stuhl ein größeres Publikum erreichen kann als ein Gebäude, dürfte viele Baumeister sicherlich auch inspiriert haben. Mit der Industrialisierung ist der Stuhl vom Kunsthandwerk zum Massenprodukt geworden. Moderne Fertigungstechnologie und eine unendliche Materialvielfalt erlauben eine fast unbegrenzte freie Formgebung. Heute gibt es Stühle in allen Gewichtsklassen: Avantgarde zum Wohnen, Sitzmöbel fürs Büro und Objektstühle für Schulen, Restaurants oder Konferenzräume. Bedenkt man, dass die vorgestellten Stuhlneuheiten auf den großen Designmessen jährlich schätzungsweise bei tausenden Modellen liegen, wird das Stuhldesign zum knallharten Business. Jeder neue Stuhlentwurf muss sich gegen ein Heer von Wettbewerbern durchsetzen, um auf den Markt zu gelangen. Besser also, man hat als Architekt oder Designer bereits ein paar Kunden an der Hand oder ein eigenes Gebäude, das bestuhlt werden muss – wie zum Beispiel 2012 bei der Folkwang-Bibliothek in Essen-Werden. Architekt war hier Max Dudler, der für seinen Neubau im gleichen Zuge die Möbelserie Black Monday entworfen hat.

Zeitlos und lösungsorientiert zum Klassiker
Am Ende ist ein Stuhl mehr als eine gute Figur. „Design, das einen Platz in der Zeit beansprucht, muss einen direkten Bezug zu Problemen oder Bedürfnissen haben, und darf nicht anonym, trendy oder stylisch sein“, wusste schon der britische Architekt und Designer Serge Iwan Chermayeff (1900 –96). Der gebürtige Aserbaidschaner hatte unter anderem für die BBC, aber auch für seine eigenen Bauten eine Reihe von Sitzmöbeln entworfen, heute wird sein Sessel SP-9 (1930) aus Chrom und Leder auf Auktionen hoch gehandelt. Ebenso wie für gute Architektur gibt es natürlich auch für einen guten Stuhl kein Rezept – zu viele Unbekannte sind in dieser Formel versteckt. Aber ein Stuhl, der eine Antwort auf die Fragen seiner Zeit zu geben vermag, hat die Chance, von einer Idee zu einem Klassiker zu werden.

Und nun zu unseren neun Lektionen, auf die Sie achten sollten, wenn Sie (als Architekt) einen Stuhl entwerfen möchten. Viel Erfolg!

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