Architektur im Ausnahmezustand
Veränderte Ansprüche an das Wohnen durch Corona?

Die Folgen der Covid-19-Pandemie werden Soziologie, Psychologie und Ökonomie noch viele Jahre beschäftigen. Welche Erkenntnisse aber kann die Architektur aus dem räumlichen und sozialen Ausnahmezustand gewinnen, dem wir seit fast einem Jahr ausgesetzt sind? Zu Beginn der Krise führten zwei Architektinnen eine Umfrage über die veränderten Ansprüche an das Wohnen durch – und machten dabei überraschende Erfahrungen.
Dieses Interview findet an einem Nachmittag im Januar 2021 statt, an drei Schreibtischen, in drei Wohnungen, in drei Städten. Frau Kaiser ist aus München zugeschaltet, Frau Bitterlich aus Klagenfurt, die Autorin selbst ist in Berlin. Die gegenwärtigen Bedingungen lassen kein anderes Szenario zu.
Wie wollen wir wohnen und leben?
Dass Architekt*innen eine Umfrage durchführen, um sich ein Bild von den aktuellen Wohnverhältnissen zu machen und um herauszufinden, ob die Pandemie den Wunsch nach alternativen Wohnformen beflügelt, ist ungewöhnlich. Für Regina Bitterlich und Ursula Kaiser war es eine Gelegenheit. Bereits während des gemeinsamen Studiums in Innsbruck beschäftigten sich die beiden Architektinnen mit der Gestaltung optimaler Wohnformen und führten die Diskussion auch nach ihrem Abschluss 2010 fort. „Wir erleben immer wieder, dass der Wohnraum, der den Menschen zur Verfügung steht, oft nicht das bietet, was die Bewohner brauchen“, beschreibt Frau Kaiser ihre Erfahrungen aus der Praxis. Um diesen Eindruck zu überprüfen und um herauszufinden, welche Ansprüche die Nutzer*innen an das Wohnen stellen, bot sich der erste Lockdown geradezu an. Denn in dieser Zeit wurde der Wohnraum zum Ausnahmezustand und verwandelte sich in einen Austragungsort privater, öffentlicher und beruflicher Nutzungen. Zudem war die Gelegenheit günstig: Die Menschen saßen zu Hause und hatten Zeit.
„Rediscover your home 2020“
Ursula Kaiser und Regina Bitterlich entwickelten eine Umfrage, die sie unter dem Titel „Rediscover your home 2020“ im April und Mai 2020 durchführten. Neben Fragen zur Demografie und Zufriedenheit in der gegenwärtigen wohnlichen Situation, interessierte die beiden Architektinnen auch, ob die Teilnehmenden sich vorstellen könnten, grundsätzlich anders zu leben. „Am Ende der Studie stellten wir Fragen, um herauszufinden, wie offen die Menschen generell für alternative Wohnkonzepte sind. Welche kennen sie? Würden sie diese ausprobieren? Und haben sie vielleicht Wünsche und Visionen, wie das Wohnen und Arbeiten in Zukunft aussehen könnte?“, erläutert Frau Bitterlich.
Umfrage mit überraschenden Ergebnissen
Insgesamt 250 Personen aus Deutschland (55 Prozent), Österreich (30 Prozent) und einigen anderen europäischen Ländern nahmen an der Umfrage teil. Überraschend war, dass viele Teilnehmende trotz der hohen Belastung mit ihrer Wohnsituation zufrieden waren. „Allerdings muss man auch berücksichtigen, dass die Menschen in einer Art Euphorie-Stimmung waren. Man ging davon aus, dass der Lockdown bald vorbei sein würde und die Pandemie in den Griff zu bekommen sei“, erklärt Frau Kaiser. „Viele Menschen mussten zwar ihr Zuhause den veränderten Nutzungsbedingungen anpassen. Womit wir aber nicht gerechnet hatten: Nur eine kleine Gruppe beantwortete die anschließende Frage, ob sie in Zukunft bei der Wahl des Wohnortes mehr auf räumliche Situationen, Ausstattung und so weiter achten würden, mit Ja. Offensichtlich sind sie bereit, sich kurzfristig an neue Situationen anzupassen, ziehen aber für die Zukunft nicht unbedingt eine Lehre aus der Corona-Zeit“, fährt sie fort. „Eine andere Erklärung wäre, dass den Menschen gar nicht bewusst ist, wie ihre Wohnsituation verbessert werden kann und wie sinnvoll das auch langfristig ist. Hier sehen wir durchaus Aufklärungsbedarf.“
Handlungsbedarf in drei Größenordnungen
Um resiliente Wohn- und Lebenssituationen für den Ausnahmezustand, aber auch für andauernde Veränderungsprozesse im Leben zu schaffen, empfehlen Regina Bitterlich und Ursula Kaiser drei Handlungsszenarien. Diese unterscheiden sich durch individuellen Planungsaufwand und Kosten sowie in der Forderung nach gemeinschaftlich orientierten Lösungen.
Erstes Szenario: Bestehende Räume gliedern
Im kleinen Maßstab gibt es die Möglichkeit, bestehende räumliche Situationen neu zu strukturieren, um Rückzugsbereiche zu schaffen. „Einer muss arbeiten, der andere macht Home-Schooling, die nächste Fitness – das funktioniert in den Grundrissen, in denen wir jetzt leben, nicht. Am einfachsten und günstigsten sind da Raum-im-Raum-Lösungen. Auch mit dem Einsatz von Möbeln kann ein großer Raum gegliedert werden. Wie sich in der Pandemie gezeigt hat, kann die Designszene sehr schnell auf diese Bedürfnisse reagieren und sich diesen anpassen“, führt Ursula Kaiser aus.
Handlungsbedarf beim Um- und Neubau
Im größeren Maßstab betrachtet, wird eine strukturelle Umnutzung sowie ein Umdenken bei der Neuplanung notwendig. „Die Studie hat gezeigt, dass viele Teilnehmer ein gesteigertes Interesse an Shared Spaces haben. Daraus folgern wir, dass ein Um- und Ausbau gemeinschaftlich verwendeter Bestandsflächen in unmittelbarer Nähe des eigenen Zuhauses den eigenen Wohnraum zeitweise entlasten könnte. Langfristigen Handlungsbedarf sehen wir bei der Neuplanung. Hier besteht die Chance, von vornherein flexible Grundrisse und gemeinschaftlich nutzbare Flächen zu planen.“
Zweite Umfrage in Planung
Den beiden Architektinnen ist klar, dass ihre Studie schon aufgrund der geringen Teilnehmerzahl nicht repräsentativ ist. Das muss sie auch nicht sein, denn Regina Bitterlich und Ursula Kaiser haben die Umfrage ohne unmittelbare wirtschaftliche Ziele und ohne Auftrag von Dritten durchgeführt. Sie wollten ihre Zielgruppe besser verstehen, um die es in ihren planerischen Überlegungen geht: die Bewohner*innen und Nutzer*innen des umbauten Raumes. „Wir haben die Studie aber auch durchgeführt, um einen Dialog zu führen, wie mit Ihnen heute“, betont Regina Bitterlich. „Wir müssen mehr über das Thema sprechen, wie wir in Zukunft leben und wohnen möchten. Und wir wollen aktiv am Diskurs teilnehmen und nicht nur von außen zuschauen. Wenn die Studie sogar etwas dazu beitragen kann, dass sich etwas ändert, dann ist das sehr positiv. Natürlich geht es uns um die Architektur, aber auf unserer Webseite schreiben wir auch, dass wir Input aus allen Branchen willkommen heißen. Wir können uns viel ausdenken und planen, aber wie unsere Welt wirklich aussehen soll, erfahren wir nur, wenn wir gemeinsam darüber sprechen.“
Gestiegener Wunsch nach neuen Wohnformen?
Seit der Durchführung der Umfrage haben die beiden Architektinnen eine Webseite erstellt, auf der sie ihr Anliegen erläutern und nun auch die Ergebnisse der Studie vorstellen. Sie haben für ihr Engagement viel positive Resonanz erhalten, sind im Austausch mit verschiedenen Akteur*innen und gaben im vergangenen Jahr bereits mehrere Interviews. Aus dem zweiten Lockdown heraus, bereiten die Architektinnen nun eine weitere Umfrage vor, die in den nächsten Tagen online geht. Sie soll auf den Erkenntnissen der ersten aufbauen. Besonders gespannt sind Regina Bitterlich und Ursula Kaiser darauf, wie die Befragten ihre Wohnsituation heute bewerten und, ob der Wunsch nach neuen Wohnformen inzwischen gestiegen ist.
Die Umfrage-Ergebnisse der ersten Studie können Sie auf der Webseite nachlesen.
Nachtrag 4.2.2021: Die zweite Umfrage ist online verfügbar.
www.architekturimausnahmezustand.com
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