Stories

Dark Side Club 2012: Erster Abend

von Norman Kietzmann, 12.12.2012


Der erste Abend des Dark Side Club führte am 25. August ans Festland von Venedig, wo unter dem Portikus von Palladios Villa Foscari Malcontenta gegessen und diskutiert wurde. Geleitet wurde der Abend von Gary Bates (Space Group Oslo), der den Städten Südamerika durch die zunehmende Bedeutung von Rohstoffen ein neues Goldenes Zeitalter prophezeite. Ein Auszug aus einem mehr als zweistündigen Gespräch über ein Raumschiff in der chilenischen Wüste, soziale Zeitbomben und Städteplanung nach Guerilla-Art.


Gary Bates: Ich möchte den Abend mit einem Zitat von Bruno Latour beginnen, der die Entdeckung des Weltraums mit der Moderne verglich: „Es ist nicht viel übrig von der Moderne, obwohl alles neu ist. Um die Vorstellung von Architekten, Städteplanern, Designern, Sozialwissenschaftlern zu überarbeiten, werden Aktivisten und Bürger unweigerlich ein Teil von diesem System werden. Es gibt keine Möglichkeit, die Vergangenheit zu verändern...“ Warum ich Latour ins Spiel bringe, hat einen Grund. Denn heute morgen, nur wenige Stunden, bevor wir diesen Salon begonnen haben, ist der Astronaut Neil Armstrong gestorben.

Auch unsere Diskussion über Südamerika ist unmittelbar mit der Entdeckung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen verbunden. Worum es uns geht, ist die Frage, wie Technologien und die Suche nach einer nachhaltigen Zukunft die Planung von Städten verändern kann. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, wie das passieren könnte. Einige Experten spekulieren, dass sich die Nationen auf Städte reduzieren werden. Und diese Städte untereinander wirtschaftliche Beziehungen eingehen werden anstelle der Staaten. Vor allem, weil in vielen Fällen der Energieausbau von privater und nicht von staatlicher Seite betrieben wird.

Was wir in den letzten Jahren in Südamerika beobachten konnten, sind vor allem pragmatische Interventionen im kleinen Maßstab, die sich über gesamte Städte erstrecken. Die Geschwindigkeit, in der gebaut wird, macht eine umfassende Stadtplanung nahezu unmöglich. Der Weg, den die südamerikanischen Städte gehen und weiter gehen werden, wird zweifelsohne ein anderer sein als in den am Reißbrett geplanten Städten Chinas, die lediglich durch das Ausblenden demokratischer Entscheidungen möglich sind. (...) Auch werden die Wirtschaftszweige in den nächsten 15 Jahren grundlegend andere sein als heute. Erneuerbare Energien und Recycling werden eine stärkere Rolle spielen. Wir wollen diskutieren, wie neue Arten zu Leben, zu Arbeiten und soziale Engagements aussehen können. Denn über Energie zu sprechen, ist automatisch mit Gesundheit, Bildung und anderen Fragen verbunden.
...
Winy Maas (MVRDV): Wir sollten vor allem die Wahrnehmung einer menschlichen Energie mit einbeziehen und uns nicht nur auf Jules und Newton konzentrieren.

Alejandro Aravena (Elemental): Es gibt einige Dinge, die vielleicht nicht einzigartig, aber doch charakteristisch für Lateinamerika sind. Denn die Städte sind in sich abgeschottet. Und abgeschottete Städte sind niemals effizient. Der Startpunkt wäre, wie wir die Trennung aufheben und die Städte effizienter machen können? Ein typischer Vorschlag aus der Sicht von westlichen Planern bestünde darin, die Armen zwischen den Reichen wohnen zu lassen. Dabei sollten wir genau umgekehrt denken und die Reichen dorthin bringen, wo die Armen wohnen. Sie brächten Jobs, Geschäfte und mehr Sicherheit in jene Stadtteile, die bislang unter niedrigen Lebensstandard leiden. Dieser Weg ist weitaus realistischer als der umgekehrte Versuch.
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Elena Pascolo (Architectural Association): Ich würde Südamerika allerdings nicht als eine Einheit sehen. Das wäre zu oberflächlich. In Europa hat es Jahrhunderte gedauert, an den Punkt von heute zu gelangen. (...) In den lateinamerikanischen Städten gibt es keine Masterpläne. Auch handeln sie nicht als Ganzes. Auf der anderen Seite kann darin auch eine Chance bestehen. Wir haben in Europa kaum von den Fehlern der anderen Länder gelernt und sind unsere Wege zumeist allein gegangen. Die heutige Informationstechnologie wird den Städten in Südamerika erlauben, schneller zu lernen und die Wachstumskurve nach oben zu lenken.

Gary Bates:
Das europäische Projekt im Vergleich zum amerikanischen Projekt: Ich würde sagen, dass die Informationstechnologie die Städteplanung kaum verändern dürfte. Sie bewirkt vielleicht einen minimalen Ausschlag. Wir kennen bis heute ja nur drei Bücher, die einen wirklichen Einfluss auf die Stadtplanung hatten. Zuletzt war es Delirious New York.
...

Alejandro Aravena: Lasst mich über das Beispiel der chilenischen Stadt Calamar sprechen, die über die weltweit größte Kupfermine verfügt. Sie ist das Zentrum der Produktion in Chile und das Einkommen ist hoch. Dennoch gingen zwanzig Prozent der Bewohner auf die Straßen und protestieren gegen die Unternehmen, weil die Lebensqualität nicht dem Wohlstand entspricht, den sie für das Land erarbeitet haben. In diesem Sinne ist die Energie eine soziale Kraft, die sich zu einer Zeitbombe entwickeln könnte. (...) Als sie ein neues, gut ausgestattetes Krankenhaus in der Stadt gebaut haben, wollte kein Arzt dort arbeiten. Denn sie hätten ihre Familien in eine Stadt bringen müssen, die ihnen keine Lebensqualität bietet – selbst dann, wenn ihre Bewohner Geld haben. Calamar ist immerhin einer der trockensten Orte auf der Welt und Wasser die knappste Ressource.
...

Winy Maas:
In Calamar gibt es das größte Shopping-Center der Welt. Ich mag diese Kühlbox in der Mitte der Wüste – sie könnte ebenso gut eine Marsstation sein. Vielleicht können wir diese auch an die Küste von Brasilien bringen? Vielleicht ist es besser, die Stadt in eine Oase wie San Pedro de Atacama zu verwandeln, einen netten Ausflusort für Touristen.

Alejando Aravana:
Ich denke, dass Zynismus nicht Teil dieser Diskussion sein sollte. Das mag vielleicht cool sein, aber politisch nicht korrekt. Lass mich den Bürgermeister von Calamar zitieren. Er sagte: Wir hatten eine Identität zur Zeit der Inkas. Als dieses Modell lange vorüber war, hat uns die Montanindustrie eine neue Identität gegeben, die nichts mit der Region zu tun hatte. Sie wurden von außen aufgesetzt. Sie haben lauter Bäume hergebracht, obwohl es nur einen Millimeter alle zwanzig Jahre regnet. Sie gehören einfach nicht an diesen Ort. Die Frage ist, welche Identität wir brauchen für eine Stadt wie diese, in der Reich und Arm, Landwirtschaft und Industrie, die Kultur des Westens und die der Ureinwohner zusammentreffen? All diese Leute leben am selben Ort. Aber niemand weiß, wie die Umwelt dieser Stadt aussehen soll.

Winy Maas:
Aber habt Ihr ein Vorschlag gemacht?

Alejando Aravana: Sicher. Unser erster Vorschlag wurde komplett abgelehnt. Der zweite kam eine Runde weiter. Der Dritte wurde schließlich ersthaft studiert. Es ist eine Synthese aus unterschiedlichen Punkten. Natürlich spielt das Modell der Shoppingmall eine Rolle, weil die Leute von diesem Lebensmodell inspiriert sind. Doch wir beziehen auch die Ureinwohner mit ein, die eine enge Verbindung zur Erde hatten. Sie haben uns gefragt, was sie mit ihren Tieren in den Städten machen sollen. Darüber wurde auf Ebene der Stadtplaner nie nachgedacht.
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Elena Pascolo: Die Frage ist doch, welche Werkzeuge wir benutzen, um eine Stadt zu kreieren? Wie strukturieren wir die Vision? Kehren wir zurück zu dem, was wir kennen, einem Masterplan 5.5. oder 6.0? Oder sollten wir die Werkzeuge neu überdenken und neu ausrichten, mit denen wir arbeiten? (...) Wir sollten wie Agenten arbeiten auf dem Level der Politik. Warum gibt es so gut wie keine Architekten, die in eine vorausschauende Planung auf nationaler Ebene eingebunden sind? Diese Leute könnten darüber Auskunft geben, was in den Küstenstädten von Brasilien passieren müsste, was in der Wüste und was in Grönland. Ihre Arbeit müsste über die reine Analyse von Daten hinaus gehen. Es geht darum, ein wirkliches Wissen zu erzeugen und Vorschläge zu erarbeiten. Denn was erst einmal auf dem Tisch liegt, kann auch weiter entwickelt werden.
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Andres Iacobelli (Elemental): Trotz der Unterschiede haben wir in Südamerika eines gemeinsam: Chile, Brasilien, Peru, Kolumbien und Mexiko stellen 75 Prozent der Bevölkerung von Amerika, und in zehn Jahren werden sie enorme Wachstumsraten erreichen. 20 Prozent aller Gebäude, die wir brauchen, müssen in den nächsten zehn Jahren gebaut werden. Die Städte werden um 30 bis 40 Prozent an Größe zulegen, der Energieverbrauch wird sich verdoppeln.

Toshiko Mori (Harvard Graduate School of Design): Wenn das Wachstum so schnell verläuft, muss die Bevölkerung enorm jung sein. Nicht nur der Energieverbrauch wird steigen. Auch Bildung und genügend Jobs werden zur Herausforderung. Wir haben in Harvard mit mehreren Ingenieuren gesprochen, die der Meinung waren, dass die Technologie alles lösen könne. Aber in unseren Studien haben wir entdeckt, dass das Verhalten der Menschen einen weit höheren Einfluss hat als die Technologie. Bildung ist somit der Schlüssel.
...
Gary Bates: Bei diesem Grad an Geschwindigkeit ist eine Planung mehr oder weniger unmöglich. Diese Dinge passieren in einer Art Guerilla-Planung. Ich denke, darin liegt eine enorme Möglichkeit. Südamerika unterscheidet sich deutlich von den USA oder den Staaten Asiens. Waren es erst die Menschen, die in Richtung der Wirtschaft gezogen sind, sind es nun die Unternehmen, die in Richtung der Menschen ziehen. Städte wie Sao Paolo entwickeln sich in einer enormen Geschwindigkeit. Fragen des Energieverbrauchs wie auch der Lebensqualität sind unmittelbar ineinander verbunden. Ich bin fest überzeugt, dass die Welt im Jahr 2050 vollständig nachhaltig agieren wird. Die Frage ist nur, wie wir an diesen Punkt gelangen werden.
...

Es diskutierten: Gary Bates, Giulia Foscari, Louis Becker (Henning Larsen), Toshiko Mori, Alejandro Aravena + Andres Iacobelli (Elemental), Elena Pascolo, Winy Maas, Allison Crawshaw, Andres Iacobelli, Paul Rogers + Lorraine Landels (Büro Happold) u.a.

Weiter zum zweiten Abend des Dark Side Club 2012.
Was noch im Salon der Dunkelheit passierte, lesen Sie in unserem Special.
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Dark Side Club

www.darksideclub.org

Dark Side Club 2012

www.designlines.de

Dark Side Club 2010

www.designlines.de

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