Das Leitfossil
Auserzählt: Warum der klassische Büro-Arbeitsstuhl nur noch eine Sitzgelegenheit unter vielen ist.

Es gab einmal ein Leitmöbel auf der Orgatec: den klassischen Büro-Arbeitsstuhl. Alle großen Hersteller entwickelten laufend neue Modelle und versuchten, sich mit noch ausgefuchsteren Mechaniken zu überbieten. Aktuelle Trends ließen sich zuverlässig an den Stuhl-Neuheiten ablesen. In diesem Jahr war nicht alles anders, denn natürlich haben die Unternehmen immer noch Arbeitsstühle aller Preisklassen in ihren Portfolios. Aber im Mittelpunkt der Messestände standen Loungesessel, gepolsterte Bänke, Barhocker, Poufs, Ohrensessel, Sofas, Schalenstühle – sogar Schaukeln. Eben alles, worauf wir uns heutzutage zur Arbeit niederlassen sollen.
Dieser Artikel wurde mit dem Notebook auf dem Schoß auf dem Sofa geschrieben. Das Mobiltelefon lag auf dem Polster daneben. Und solch eine mobile Art zu arbeiten wird zurzeit von allen wichtigen Ausstellern der Büromöbelmesse als Leitbild propagiert. Dabei hat es ihnen vor allem die besonders flexible Arbeitskultur der Start-Ups angetan. Dahinter steckt neben Marketingargumenten auch das Interesse ihrer großen Kunden, zumindest einen Teil der Mitarbeiter immer schön in Bewegung zu halten und im Firmensitz feste Arbeitsplätze und damit Fläche einzusparen. Ein Bürostuhl wird nicht mehr gebraucht, der Schreibtisch wird gleich mit suspendiert. Der Abstieg des sogenannten Listen-Stuhls, also des Arbeitsstuhls, der die lange Liste aller Normen erfüllt und damit konkurrenzfähig bei großen Ausschreibungen ist, darf mit der Orgatec 2014 als besiegelt gelten.
Ein bisschen Spaß
Ein weiterer Grund für den Abstieg des einstigen Leitmöbels: Mit Arbeitsstühlen sind nun wirklich alle Unternehmen ausgestattet. Wenn nicht Erweiterungen oder gar ein Neubau anstehen, gibt es da wenig zu verdienen. Gute Bürostühle halten lange und müssen allenfalls alle paar Jahre gewartet, mal ein Bezug oder die Rollen erneuert werden. Aber die bequemen Opa-Sessel, die immer noch populären Sofas mit überhohen Lehnen, die poppig-bunt bezogenen Sitzinseln – die hat noch nicht jede Provinzbank in der Zwischenzone. Alle wollen was abhaben vom Google-Spaßbüro-Feeling. Jeder will sich mal fläzen dürfen, sich einkuscheln, wippen, schaukeln oder lässig am Stehtisch an den Barhocker gelehnt ein Telefonat führen und dabei Mails checken, kurz: Den Zug ins Büro der Zukunft möchte niemand verpassen.
Das Ende der Geschichte
Der dritte Grund: Die Typologie des Listen-Stuhls ist womöglich auserzählt. Es gibt nichts mehr Neues daran zu erfinden oder zu gestalten – und also auf einer Messe, deren Leitwährung das noch nie (oder länger nicht mehr) Dagewesene ist, auch nichts zu präsentieren. Und tatsächlich, bei Bürostühlen haben wir alles schon gesehen: die immer noch gültigen Entwürfe aus den Fünfzigern und Sechzigern mit ihrer Eleganz und Selbstgewissheit – heute unwiederholbar, weil absolut listenuntauglich –, den Einzug der Kunststoffe und der ergonomischen Formen in den Siebzigern, gewisse formale Extravaganzen in den Achtzigern. Seit den Neunzigern dann immer größere Transparenz, aber auch die Dominanz einer technisch-ingenieurhaften Ästhetik. Jede Büroepoche hat ihr Leitfossil.
Camouflage Techno
Und heute? Der interessanteste Beitrag zum Thema auf der diesjährigen Orgatec war Kinesit vom italienischen Hersteller Arper. Sehr zeitgemäß farbenfroh mit schlanker Silhouette und weißen Kunststoffteilen, aber vor allem: Man sieht dem Stuhl gar nicht an, dass er alle Häkchen auf der Checkliste bekommt. Denn die Designer Lievore Altherr Molina haben die notwendigen Mechaniken unterm Sitz und in der Schale versteckt. Arbeiten soll nicht mehr nach Arbeit aussehen, und der Arbeitsstuhl nach allem, bloß nicht nach Büro.
Von B wie Bank bis W wie Wirtshausstuhl: Eine Bildergalerie voller Sitzgelegenheiten von der Orgatec 2014 finden Sie über diesem Text.
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