Das Werk der Hände
Japanisches Design seit 1945 von Naomi Pollock
In dem jüngst erschienenen Buch „Japanisches Design seit 1945“ gibt Naomi Pollock einen Überblick über die Designentwicklung in Japan, wo Gestalter*innen versuchen, zwischen Tradition und Gegenwart stets einen ausgleichenden Kompromiss zu finden.
Japanisches Design ist nicht auf Form, Funktionalität und Material reduziert, sondern eng verbunden mit der Tradition und der Kultur des Landes. In der Nachkriegszeit weitete sich die im Westen begonnene Massenproduktion zunehmend auch in Japan aus und führte dort zu einem Designverständnis, das traditionelle und zeitgenössische Gestaltung auf neue Weise miteinander verbindet. In ihrem Band Japanisches Design seit 1945 gibt Naomi Pollock einen Überblick über die Designentwicklung im Land der aufgehenden Sonne.
In sechs Kapiteln, auf 448 Seiten und 750 Abbildungen, stellt die amerikanische Architektin und Autorin Naomi Pollock Produkte aus den Kategorien Möbel, Essgeschirr, Leuchten und Elektronik, Grafik- und Verpackungsdesign, Tuch und Textilien sowie Lifestyle-Produkte, Klassiker und zeitgenössische Designobjekte vor. Unter dem Begriff „Alltagsikonen“ gibt sie kurze Einführungen zu Produkten, die im Laufe der Zeit kulturelle Bedeutung erlangten, wie Sori Yanagis Butterfly Stool aus dem Jahr 1954. Dieser ist, wenn man so will, die japanische Antwort auf Charles und Ray Eames’ Bugholzmöbel. Yanagi hatte die beiden amerikanischen Designer im Auftrag der japanischen Regierung besucht, um sich mit dem Verfahren vertraut zu machen.
Giganten der Designgeschichte
Auf den ersten Seiten des Bandes widmet sich Pollock einzelnen Porträts von Gestalter*innen, die den Grundstein für das japanische Design nach 1945 legten und international Einfluss ausübten. Darunter sind Naoto Fukasawa mit seinem Stuhl Hiroshima (2008) und seinem weltweit bekannten CD-Spieler, den MUJI in das Sortiment aufnahm. Oder der bekannte Modedesigner Issey Miyake, der mit neuen Materialien und Techniken die Fashionwelt revolutionierte. Insgesamt umfasst Pollocks Überblick Werke von über 70 Kreativen. Ihre Recherchen weitete sie durch Interviews mit Designern, ihren Kollegen sowie Kuratoren und Kritikern aus und sie fügte Essays japanischer und westlicher Designexperten zu verwandten Themen bei.
Es lebe das Handwerk
Obwohl Japan einige der modernsten Roboterfertigungen der Welt entwickelt hat, werden viele seiner bekanntesten Produkte von kleinen Fabriken und Werkstätten hergestellt, also von Menschenhand geschaffen. Die Einführung des Bandes beschäftigt sich zudem ausführlich mit der Bedeutung des Handwerks in der japanischen Kultur. Der Begriff „Monozukuri“ – ein zusammengesetztes Wort, das einfach „Dinge machen“ bedeutet – ist ebenso eine Denk- wie eine Arbeitsweise. Dabei ist es „die von Herzen kommende Verpflichtung” des Ausführenden, das Allerbeste zu geben, mit dem Auge und der Hand das zu bearbeitende Objekt so lange zu studieren und erneut zu verfeinern, bis es perfektioniert ist – egal wie infinitesimal die Änderungen auch sein mögen. Diese Konzentration und dieser Nachdruck zeigen sich überall in Japan. Im Gegensatz zu unserer westlichen Kultur, die zu Handwerk und Handwerkskunst auch Dekoratives, Verzierungen oder Schnörkel zählt, steht in Japan das Handwerk für die Fertigung von Produkten, die dem reinen Nutzen im Alltag dienen sollen.
Zerbrechlich, vergänglich und miniaturisiert
Masaaki Kanai ist seit 2015 Präsident von MUJI, der wohl bekanntesten japanischen Exportmarke. Im Vorwort des Buches schreibt er, dass Japans Kultur und Design von drei Tendenzen gekennzeichnet sind: Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und Miniaturisierung. Gleichzeitig sei die japanische Kultur nicht mit der globalen wirtschaftlichen Entwicklung, dem Finanzkapitalismus und der Digitalisierung vereinbar. Laut Kanai basieren die Wertvorstellungen der Japaner auf dem Reisanbau, „auf schwerer, ehrlicher Arbeit, Gleichheit, gegenseitiger Unterstützung und einem Leben im Einklang mit der Natur.” An den Produkten von MUJI lassen sich die Handwerkskultur, das tiefe Verständnis für Materialien und das große Interesse an Funktionalität ablesen. Diese Hingabe äußert sich beispielsweise in Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Tassen oder Schalen sehen nicht nur schön aus, sondern liegen auch höchst angenehm in der Hand und machen das Trinken aus ihnen zum Erlebnis. Auch mit der Verbreitung der Massenproduktion hielten Japaner streng an ihren Grundwerten und Regeln fest, was zu zeitlosen Objekten von großer Schönheit und Nützlichkeit in Material und Form führte.
Simpel, funktional und kulturrepräsentierend
Eines der wohl berühmtesten Beispiele japanischen Designs ist nicht nur in Museen, sondern auch in vielen Restaurants und Haushalten anzutreffen – die Kikkoman-Sojasaucenflasche. Ihre Entstehungsgeschichte verwirklicht filmreif einen japanischen Traum. Kenji Ekuan hatte gerade seine eigene Designagentur eröffnet, als er 1961 den bedeutendsten Auftrag seines Lebens akquirierte: Für die Lebensmittelfirma Kikkoman sollte er einen Tischspender für deren Sojasauce entwerfen, die bis dahin in unhandlichen Körben angeboten wurde. Drei Jahre und über hundert Prototypen später lag der Endentwurf vor, eine kleine bauchige Glasflasche mit rotem Verschluss. Ihre Form erinnert an einen Tropfen, das Glasgefäß verweist auf die Tradition des Sake-Porzellans, der runde Deckel gleicht dem roten Punkt der aufgehenden Sonne, dem Symbol der japanischen Flagge. Allein dieser alltägliche Gebrauchsgegenstand zeigt, wie in einen Entwurf sowohl Tradition als auch Symbolik einfließen können, wie er dabei äußerst funktional und zeitlos sein kann – und wie seine Benutzung zum Erlebnis wird. Die berühmte Sojasaucenflasche und viele andere Produkte, die Pollocks beeindruckender Band versammelt und mit interessantem Hintergrundwissen verbindet, geben einen vertiefenden Einblick in die neuere Gestaltungskultur Japans.
FOTOGRAFIE Dumont Verlag
Dumont Verlag