Möbelikonen Teil 1: Butterfly Stool
Zwischen Ost und West: Vor 60 Jahren entwarf Sori Yanagi seinen schwebend leichten Butterfly Stool.
Als ein Hocker das Fliegen erlernte: Vor genau 60 Jahren gelang Sori Yanagi (1915-2011) mit seinem schwebend leichten Butterfly Stool der internationale Durchbruch. Bis heute wird das Kurvenwunder aus Schichtholz in Form gepresst. Einem Material, das Sinnlichkeit, Ausdruckskraft und Effizienz in Einklang bringt.
Möbel sind wie Getriebene. Nicht nur die Schwerkraft setzt ihnen unermüdlich zu. Auch gehen ihre Besitzer keineswegs zimperlich mit ihnen um. Dass Stabilität und Leichtigkeit keinen Widerspruch bilden, konnte der japanische Gestalter Sori Yanagi (1915-2011) mit seinem bekanntesten Entwurf beweisen. Butterfly heisst der Hocker-Klassiker aus dem Jahr 1954, der bis heute von Vitra produziert wird und das Prinzip der japanischen Origami-Faltkunst auf den Möbelbau übertrug.
Organische Moderne
Nur wenige Jahre zuvor hatten Charles und Ray Eames das Verfahren der Sperrholz-Verformung entwickelt und damit die technologische Grundlage für Yanagis Entwurf geschaffen. Anstatt ein flächiges Material wie beim Origami in die dritte Dimension zu falten, konnte es unter Hitzeeinwirkung in organisch-weiche Kurven gepresst werden. Seine Stabilität erhielt das filigrane Sitzmöbel durch einen konstruktiven Trick: die achsensymmetrische Doppelung der aus Ahorn- oder Palisanderholz gefertigten Schale, die mithilfe zweier Schrauben und einer Messingstange verbunden wurden.
Der Hocker erinnert an zwei Hände, die in einladender Geste nach oben offen gefaltet sind oder – wie der Name bereits vorwegnimmt – an die Flügel eines Schmetterlings. Mit seinen fließenden Konturen wirkt der Entwurf wie ein Gegenmodell zum kantig-klaren Ulmer Hocker (1954), den Max Bill exakt im selben Jahr für die Möblierung der neu gegründeten Hochschule für Gestaltung Ulm konzipiert hatte. Doch trotz seiner handwerklichen Erscheinung ist der Butterfly-Hocker hoch industriell und verdankt seine Kurven präzise arbeitenden Maschinen. Die Stärke des Entwurfs liegt genau an dieser Stelle: Die Skulpturalität ist weder das Ergebnis einer ausufernden Materialschlacht noch Ausdruck reiner Handwerkskunst. Allein zwei verformte und verschraubte Holzteile reichen aus, um Sinnlichkeit, Ausdruckskraft und materielle Sparsamkeit in Einklang zu bringen.
Zwischen Ost und West
Während sich die Materialität und Herstellungsweise an westlichen Vorbildern orientieren, bleibt die organische Formensprache dem Fernen Osten verhaftet. Dass dieser Umstand keinen Widerspruch bedeutet, zeigt Sori Yanagis biografischer Hintergrund. Sein Vater Soetsu war der Gründer der Mingei-Bewegung – dem japanischen Pendant zum britischen Arts and Craft Movement – und initiierte in den dreißiger Jahren zusammen mit den Keramikmeistern Shoji Hamada und Kanjiro Kawei das japanische Handwerksmuseum. Im Mittelpunkt standen einfache, funktionale und anonyme Gebrauchsgegenstände für den alltäglichen Bedarf, die trotz ihrer puren Handwerklichkeit erschwinglich sein sollten. In seinen Essays hatte Yanagis Vater wiederholt die ästhetischen Unzulänglichkeiten der industriellen Produktion bemängelt – ein Umstand, der den jungen Sori genau in diese Richtung gehen ließ.
Nach seinem Studium an der Kunstakademie von Tokio begann er, 1940 im Büro des japanischen Architekten Junzo Sakakura zu arbeiten und lernte dabei die Moderne kennen. Sieben Jahre lang hatte Sakakura das Pariser Studio von Le Corbusier geleitet, bevor er Ende der dreißiger Jahre sein eigenes Büro in Tokio gegründet hatte. Über diesen Weg lernte Sori Yanagi schließlich Charlotte Perriand kennen, die er als Assistent und Dolmetscher von 1940 bis 1942 auf ihren Reisen durch Japan begleitete. Die Erfinderin von Le Corbusiers Stahlrohrmöbeln war von der japanischen Regierung eingeladen worden, der dortige Wirtschaft in Gestaltungsfragen auf die Sprünge zu helfen. Yanagi entdeckte auf diese Weise nicht nur sein eigenes Interesse an industrieller Gestaltung. Er begann im Anschluss, Design zu unterrichten, eröffnete sein eigenes Studio und zählte zu den Gründungsmitgliedern der Industrial Design Association sowie des Japan Design Committee.
Seiner Zeit voraus
Der Butterfly Stool, der 1957 mit der Goldenen Medaille der 11. Mailänder Triennale ausgezeichnet wurde, wirkt wie eine Synthese von Sori Yanagis vier Dekaden währender Arbeit. Er vereint das Gespür für handwerkliche Ästhetik, das er von seinem Vater erlernt hatte, mit den technologischen Möglichkeiten der industriellen Produktion. Mit großer Neugierde hat Yanagi auch weitere Materialinnovationen aufgegriffen. Wie ein Bruder des Butterfly Stool wirkt der nur wenige Monate später entwickelte Hocker Elephant (1954), für den anstelle von Sperrholz ein im Möbelbereich noch ungebräuchlicher Werkstoff zum Einsatz kam: glasfaserverstärktes Polyesterharz.
Auch hier wird der Einfluss von Charles und Ray Eames deutlich, die ihren Plastic Side Chair 1948 vorgestellt hatten. Allerdings bestand bei diesem Modell nur die Sitzschale aus Kunststoff und nicht das tragende Gestell. Der kompakte Elephant-Hocker war dagegen das erste Sitzmöbel, das komplett aus Kunstoff gefertigt wurde – lange vor Richard Sappers und Marco Zanusos K1340 (dem ersten reinen Kunststoff-Stuhl, produziert ab 1964 von Kartell) und Verner Pantons ikonischem Panton Chair aus dem Jahr 1967 (dem ersten Freischwinger aus Kunststoff).
Internationale Anerkennung
Sowohl der Butterfly- als auch der Elephant-Hocker waren zusammen mit anderen Arbeiten Yanagis auf der documenta III in Kassel zu sehen, die zu dieser Zeit noch über eine eigene Abteilung für Design verfügte. Sori Yanagi konnte mit dieser Schau nicht nur seinen Ruf als Gestalter festigen. Er verhalf dem jungen japanischen Möbeldesign, das erst in den vierziger Jahren mit der Herstellung von Stühlen und Hockern begonnen hatte, zu internationaler Anerkennung. Zuvor wurde stets auf Tatami-Matten auf dem Boden gesessen, sodass kein Bedarf an zusätzlichen Sitzmöbeln bestand. Dass ausgerechnet in dieser Disziplin japanische Gestalter wie Shiro Kuramata, Shigeru Uchida oder jüngst Tokujin Yoshioka reüssieren sollten, mag überraschend wirken. Doch mit einem filigranen Schmetterlings-Hocker wurde ihnen vor 60 Jahren der Weg geebnet.