Design der Entmaterialisierung
Im realen Jogger auf dem Sofa, in Couture zum virtuellen Meeting

Es ist in der Mode, im Möbeldesign und in der Architektur zu beobachten: Langsam ziehen die ersten um. Gestalter schaffen heute Orte, Dinge und Erlebnisse, die nicht für die Realität gemacht sind, sondern ausschließlich für ein Leben in virtuellen Welten.
Im Mai 2019 zahlte Richard Ma 9.500 Dollar für ein Kleid, das nicht existiert. Er schenkte es seiner Frau Mary Ren. Es besteht aus federleichtem, irisierendem Textil – oder aus Nullen und Einsen. Denn tragen kann Mary Ren das Kleid nur im Internet. Auf Instagram zeigt sie sich darin. Mary Ren steht im Park, lächelt in die Kamera und ein leichter Wind fängt sich in den schillernden Lagen. Das Design ist eine Kooperation der Künstlerin Johanna Jaskowska, die auch futuristische Fotofilter (Beauty3000) erfindet, und dem Amsterdamer Modehaus The Fabricant, das seit 2016 ausschließlich digitale Kleidungsstücke entwirft. Für Richard Ma ist der Kauf eine Investition, denn eines Tages werden wir dieses Kleid vielleicht als Pionier-Robe der digitalen Couture im Museum sehen. Und vielleicht werden wir dafür nicht aus dem Haus gehen müssen, sondern einfach eine VR-Brille aufsetzen.
Die Grenzen der Physik (sind so 2000)
Besonders in diesem Jahr haben wir uns alle gefragt, wie die digitale Zukunft werden soll, von der immer alle reden. Institutionen, Veranstaltungen und Erlebnisse mussten unmittelbar von der Realität in virtuelle Räume umziehen. Dabei blieben aber viele neue Konzepte an alten Ideen kleben, ohne die innovativen Möglichkeiten auszuschöpfen. Kunstmessen präsentierten sich langweilig in weißen Räumen, in denen Bilder existenter Gemälde hingen – dabei böte sich die Chance, jegliche Grenzen aufzugeben. Im Internet ist jeder Raum ein unendliches Universum, die Werke müssten sich nicht mehr der Physik unterordnen, tun es aber noch. Museen bieten ihren Besuchern heute virtuelle Touren. Was die Teilnehmer hier erleben, ist aber oft nicht mehr, als ein Video-Spaziergang durch den realen Ort. Was möglich wäre: Die Ausstellungsstücke ließen sich digital animiert in Bewegung setzen. Der Künstler selbst könnte von seinem Werk erzählen, während die Geschiche im Raum zum erlebbaren Film würde, mit dem Besucher als Protagonisten.
Von den Gamern lernen
Gut gemacht hat es das Londoner Studio Space Popular: Für das spanische Architekturfestival Arquia Próxima, das vom 21. bis 22. Oktober 2020 stattgefunden hat, haben die Gestalter Lara Lesmes und Fredrik Hellberg einen virtuellen Schauplatz mit neun Räumen entworfen. Wer das Festival betrat, konnte in der Lobby einen Avatar wählen, der an seiner Stelle im Auditorium saß, durch die Galerien flanierte oder sich in Gärten mit anderen Teilnehmern zum privaten Chat traf. Statt einen Vortrag als Mitschnitt eines Zoom-Calls zu erleben, wurde dieser auf eine Bühne projiziert, während der virtuelle Raum und die anderen Zuschauer sichtbar blieben. Statt nur durch einen digitalen Katalog aktueller Architekturprojekte zu blättern, wurden diese in einer Galerie arrangiert. Das virtuelle Festival wurde durch Erlebnisfaktoren im Sinne eines Videospiels aufgeladen, bei dem es hinter jeder Tür etwas zu entdecken gab und das jede Menge Interaktion bot.
Alles echt?
Virtuelle Räume werden mit den neuen Möglichkeiten – aber auch den aktuellen Einschränkungen – immer mehr an Relevanz gewinnen. Auch im Privaten. Denn mittlerweile sind virtuelle Räume von den realen kaum noch zu unterscheiden. Wer sich davon überzeugen will, kann zu einem beliebigen Möbelkatalog greifen. In einem IKEA-Katalog basieren mittlerweile drei Viertel aller Abbildungen auf Computer Graphics, kurz CG genannt. Ein Möbelproduzent kann mit virtuell eingerichteten Wohnzimmern sehr viel Geld und Zeit für reale Produktionen sparen. Und schon für den Designer hat der digitale Entwurf Vorteile. Mit modernen Konstruktions- und Zeichenprogrammen lassen sich Möbel und Alltagsobjekte bauen, ohne dass dafür in ein physisches Modell investiert werden muss.
Urlaub im eigenen Traum
Der argentinische Designer Andrés Reisinger etwa gestaltet virtuelle Welten mit viel surrealer Entrücktheit. Verträumte, einsame, flauschige Szenarien – in denen Objekte stehen, die von Reisinger für diese Orte geschaffen wurden. Einer seiner Entwürfe ist Hortensia, ein formal recht klobiger Stuhl, der aber durch seine flattrige und blättrige Textiloberfläche an die namengebende Blüte erinnert. Als Reisinger den Stuhl 2018 auf Instagram publizierte, ging der Entwurf viral. Und immer wieder erreichten Reisinger Anfragen danach, wo es den Stuhl zu kaufen gäbe. Reisinger, der seit zehn Jahren nur mit dem Computer als Werkzeug arbeitet, entschloss sich, das Design in die Realität zu holen. Durchaus mit Schwierigkeiten: Ein Jahr Entwicklung mit der Unterstützung einer erfahrenen Textildesignerin hat Reisinger die Umsetzung von Hortensia gekostet. Denn der große Vorteil des virtuellen Designs ist, dass die Physik keine Grenzen setzt, wenn ohne materielle Beschränkungen gestaltet wird.
Die neue Romantik
Die Faszination, die von der virtuellen Welt ausgeht, begründet sich auch dadurch, dass sie oft eine idealisierte Version der Realität ist. Viele Designer gehen mit virtuellen Welten ähnlich um, wie die Landschaftsmaler in Klassizismus und Romantik. Andrés Reisinger oder auch der New Yorker Gestalter Peter Favinger zeichnen – oder überzeichnen – traumgleiche Szenen zwischen Natur und Architektur, die für den Betrachter zum Fluchtort werden. Hier geht es nicht darum, etwas zu visualisieren, das noch gebaut werden soll, sondern Utopisches und Fantastisches real erscheinen zu lassen. Und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis wir solche Orte in der virtuellen Realität dreidimensional erforschen können, uns dort vielleicht mit unseren Kollegen zu einer Mittagspause treffen oder einen Kurzurlaub zum Feierabend machen.
Des Kaisers neues Wohnzimmer
Die Zukunft liegt ohne Frage im Virtuellen. Dabei wird es die Realität wohl nicht ersetzen. Aber einiges mitnehmen: die Mode, die Möbel, das Design, uns. Wir können Veranstaltungen erleben, ohne das Haus zu verlassen. Wir liegen im Jogginganzug auf dem Sofa, während wir im Couturekleid auf Instagram zu sehen sind. Und das Design kann im Digitalen Gestaltungsideale umsetzen, die sonst vor größeren Hürden stehen. Es wird demokratisch, indem es im Internet für alle zugänglich ist und sich mit digitalen Kompetenzen ohne große finanzielle Investitionen realisieren lässt. Es wird nachhaltig, indem es gar nicht mehr existiert. Natürlich werden wir nicht wie der Kaiser in neuen Kleidern nackt durch leere Wohnzimmer spazieren. Aber die digitale Welt bietet einen Spielplatz, auf dem wir vieles erstmal ausprobieren können, bevor wir es in unser Leben und in die Realität lassen. Es warten neue Abenteuer, das findet zumindest Richard Ma, der Käufer des Kleides von The Fabricant: „Vor 500 Jahren haben wir ein Schiff bestiegen, um an den Rand der Karte zu segeln. Mittlerweile wurde die gesamte physische Welt gesehen. Es ist wirklich aufregend, jetzt einen Raum zu entdecken, der noch nicht erforscht wurde.“
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