Ein Faible für das Falsche?
Unterschätzte Scheußlichkeiten #1: Die Imitatfliese

In unserer neuen Kolumne „Unterschätzte Scheußlichkeiten“ widmet sich die Redaktion einmal im Monat Themen, über die sonst lieber nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Den Auftakt macht Stephan Redeker, der sich mit der Imitatfliese auf eine charmante Paartherapie einlässt.
Wie fühlt sich für Sie der perfekte Fußboden an, liebe Leserin, lieber Leser? In letzter Zeit täuschen mich da nämlich zunehmend die Sinne. Wie neulich im Urlaub an der Nordsee. Die Ferienunterkunft ist ein altes Friesenhaus mit Reetdach, weißen Holzsprossenfenstern und Hortensien im Garten. Saniert, aber authentisch – auch innen: Kachelofen, Messingleuchter, Holzdielen. Holzdielen? Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich betrete das Obergeschoss und stutze: Stille. Noch ein paar Schritte. Nichts. Kein Knarzen, nichts ächzt. Auch haptisch fühle ich mich zunehmend getäuscht. Ein Schweifen mit dem Sockenfuß bestätigt mir: Maserung vorhanden. Sogar die Temperatur stimmt. Doch so schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Runter auf die Knie, ein letzter Kratztest mit dem Fingernagel: Erwischt! Zwischen den „Dielen“ ist eine Zementfuge. Das, was hier nach Holz aussieht, ist mineralisch und fußbodengeheizt. Willkommen in der Welt der Imitatfliese.
Und jetzt? Ist es nun Abneigung oder Freude, die mich in dem Moment der Gewissheit durchströmt, hier ordentlich aufs Kreuz gelegt worden zu sein? In mir schlagen zwei Herzen: Das eine für Materialechtheit und massive Baustoffe, das andere für die Wonne an der perfekt ausgeführten Illusion. Beides erfordert handwerkliches Können. Die Imitatfliese, so meine These, hat das Zeug zur idealen Kompromisslösung.
Natürlich ist ein in Würde gealterter Parkettboden das Maß aller Dinge. Wer so einen Schatz durch Imitatfliesen oder auch einen anderen Belag ersetzt, dem spreche ich hiermit den gesunden Menschenverstand ab. Aber wie ist es beim Neubau? Dort kommt die Frage der Bezahlbarkeit ins Spiel. Natürlich wähle ich den hochwertigsten Bodenbelag, wenn der Preis keine Rolle spielt. Was aber, wenn das Budget knapp ist? Was sind die günstigen und Mittelklasseoptionen, wenn massives Eichenparkett unerschwinglich ist? Entscheide ich mich für eine gut gemachte Imitatfliese oder für die günstigste Fertigparkettoption mit fragwürdiger Haltbarkeit und Herkunft.
Imitatfliesen leiden traditionell unter einem schlechten Ruf. Zu nah ist ihr Herstellungsverfahren an Billiglösungen wie Vinyl oder Laminat. Ein vergleichsweise günstiges und robustes Trägermaterial wird mit einer hauchdünnen Schicht versehen – sei es eine Farbfassung, ein Druck oder Furnier. Diese gibt vor, es handele sich um ein wertvolleres Material. In der Vergangenheit ist dies oft mehr schlecht als recht gelungen, insbesondere bei Fliesen. Denken wir nur an die Achtziger- und Neunzigerjahre, als „Marmoroptik“ für Lieblosigkeit im Badezimmer stand: grauenhaft gezeichnete Motive ohne Variation, keine oder nur schlecht umgesetzte Haptik und das immer gleiche, kleine Format.
Doch halt! Durch technische Innovationen in den Nuller- und frühen Zehnerjahren hat die Imitatfliese ihren schlechten Ruf – zumindest branchenintern – längst abgelegt. Den größten Anteil daran trägt die Einführung des Digitaldruckverfahrens. Dabei werden spezielle, pigmentierte Drucktinten auf die Oberfläche der Keramik oder des Feinsteinzeugs aufgebracht. Der Prozess ähnelt dem eines normalen Tintenstrahldruckers, nur dass keramische Farben zum Einsatz kommen, die bei hohen Temperaturen eingebrannt werden. Seit etwa zehn Jahren bieten digitale Drucktechnologien eine extrem hohe Auflösung, oft über 1.000 dpi, sodass feine Details wie Maserungen, natürliche Farbverläufe oder sogar 3D-Texturen täuschend echt nachgebildet werden können. Und das Beste: Jede Fliese kann ein individuelles Muster erhalten.
Ein Blick in die Geschichte räumt weitere Zweifel aus. Materialimitate sind kein Phänomen der Moderne, sondern wahrscheinlich so alt wie die Wohnkultur selbst. Auch wenn sie heute Massenware sind, so stehen Imitatfliesen doch in der Tradition der sogenannten Fauxmalerei – einer Spielart des Trompe-l'œil. Mithilfe dieser seit der Antike praktizierten handwerklichen Maltechnik werden natürliche Materialien wie Holz, Stein oder Marmor durch Farbe und Pinselstriche täuschend echt imitiert, um kostspielige Materialien oder schwer zu bearbeitende Oberflächen nachzuahmen. Imitatfliesen funktionieren kognitiv nahezu identisch: Zwar ist die Technik eine andere, aber der kleine Serotoninschub, der einen durchfährt, wenn man merkt, dass man durch ein perfekt gemachtes Imitat genüsslich getäuscht wurde, ist damals wie heute derselbe.
Also ist es akzeptabel, ein Faible für das Falsche zu haben? Sind wir bereit, das Konzept des „Originals“ zu hinterfragen? Ich denke, wir waren es schon immer. Nur muss es eben gut gemacht sein.
Mehr Stories
Rauchzeichen aus dem Abfluss?
Wie Entwässerungstechnik zur Sicherheitslücke beim Brandschutz werden kann

Design als kulturelles Gedächtnis
Ausstellung Romantic Brutalism über polnisches Design in Mailand

Alles Theater
Dramatische Inszenierungen auf der Milan Design Week 2025

Zurück zur Kultiviertheit
Neues vom Salone del Mobile 2025 in Mailand

Dialog der Ikonen
Signature-Kollektion JS . THONET von Jil Sander für Thonet

Leben im Denkmal
Ausstellung Duett der Moderne im Berliner Mitte Museum

Mission Nachhaltigkeit
Stille Materialrevolutionen bei Vitra

Zwischen Zeitenwende und Tradition
Unsere Highlights der Munich Design Days und des Münchner Stoff Frühlings

Spiel der Gegensätze
Best-of Outdoor 2025

Outdoor mit System
Clevere Lösungen für Außenbereiche von Schlüter-Systems

ITALIENISCHE HANDWERKSKUNST
Mit Möbeln, Leuchten und Textilien gestaltet SICIS ganzheitliche Wohnwelten

Glas im Großformat
Das Material Vetrite von SICIS bringt Vielfalt ins Interior

Surrealistische Vielfalt in Paris
Highlights von der Maison & Objet 2025

Aus der Linie wird ein Kreis
Reparatur und Wiederverwertung in der Möbelindustrie

NACHHALTIGKEIT TRIFFT DESIGN
GREENTERIOR by BauNetz id auf dem Klimafestival 2025

Flora und Fauna
Neues von der Design Miami 2024 und Alcova Miami

Vom Eckkonflikt zum Lieblingsraum
Geschichte und Gegenwart des Berliner Zimmers in fünf Beispielen

Möbel als Kulturgut zelebrieren
COR feiert seinen 70. Geburtstag

Nachhaltig Platz nehmen
Vestre produziert die Sitzbank Tellus aus fossilfreiem Stahl

Historische Moderne
Best of Interior 2024 geht an das Studio AADA

Design nach Wunsch
Zum individuellen Türgriff mit dem Online-Konfigurator von Karcher Design

Rendezvous mit Prouvé
Die Highlights der Design Miami Paris 2024

Begehbare Kunstwerke, Teil 2
Weitere Gestalter*innen teilen ihre spannendsten Bodengeschichten mit uns

Westfälische Werte
Sitzmöbel von KFF aus Lemgo erobern die Welt

Ikone der Moderne
Film über Eileen Grays Villa E.1027 an der Côte d’Azur

Fugenlos glücklich
Innovatives Profilsystem von Schlüter-Systems für Keramik- und Natursteinböden

Aus der Fläche in den Raum
Neues von der Fliesenmesse Cersaie 2024

Best-of Böden
Zehn innovative Fußbodenbeläge

Begehbare Kunstwerke
Planer*innen erzählen von ihren außergewöhnlichsten Bodenerlebnissen

Die Möbelchoreografie
Ein Besuch im Thonet-Werk
