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Ein Faible für das Falsche?

Unterschätzte Scheußlichkeiten #1: Die Imitatfliese

In unserer neuen Kolumne „Unterschätzte Scheußlichkeiten“ widmet sich die Redaktion einmal im Monat Themen, über die sonst lieber nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Den Auftakt macht Stephan Redeker, der sich mit der Imitatfliese auf eine charmante Paartherapie einlässt.

von Stephan Redeker, 14.10.2024

Wie fühlt sich für Sie der perfekte Fußboden an, liebe Leserin, lieber Leser? In letzter Zeit täuschen mich da nämlich zunehmend die Sinne. Wie neulich im Urlaub an der Nordsee. Die Ferienunterkunft ist ein altes Friesenhaus mit Reetdach, weißen Holzsprossenfenstern und Hortensien im Garten. Saniert, aber authentisch – auch innen: Kachelofen, Messingleuchter, Holzdielen. Holzdielen? Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich betrete das Obergeschoss und stutze: Stille. Noch ein paar Schritte. Nichts. Kein Knarzen, nichts ächzt. Auch haptisch fühle ich mich zunehmend getäuscht. Ein Schweifen mit dem Sockenfuß bestätigt mir: Maserung vorhanden. Sogar die Temperatur stimmt. Doch so schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Runter auf die Knie, ein letzter Kratztest mit dem Fingernagel: Erwischt! Zwischen den „Dielen“ ist eine Zementfuge. Das, was hier nach Holz aussieht, ist mineralisch und fußbodengeheizt. Willkommen in der Welt der Imitatfliese.

Und jetzt? Ist es nun Abneigung oder Freude, die mich in dem Moment der Gewissheit durchströmt, hier ordentlich aufs Kreuz gelegt worden zu sein? In mir schlagen zwei Herzen: Das eine für Materialechtheit und massive Baustoffe, das andere für die Wonne an der perfekt ausgeführten Illusion. Beides erfordert handwerkliches Können. Die Imitatfliese, so meine These, hat das Zeug zur idealen Kompromisslösung.

Natürlich ist ein in Würde gealterter Parkettboden das Maß aller Dinge. Wer so einen Schatz durch Imitatfliesen oder auch einen anderen Belag ersetzt, dem spreche ich hiermit den gesunden Menschenverstand ab. Aber wie ist es beim Neubau? Dort kommt die Frage der Bezahlbarkeit ins Spiel. Natürlich wähle ich den hochwertigsten Bodenbelag, wenn der Preis keine Rolle spielt. Was aber, wenn das Budget knapp ist? Was sind die günstigen und Mittelklasseoptionen, wenn massives Eichenparkett unerschwinglich ist? Entscheide ich mich für eine gut gemachte Imitatfliese oder für die günstigste Fertigparkettoption mit fragwürdiger Haltbarkeit und Herkunft.

Imitatfliesen leiden traditionell unter einem schlechten Ruf. Zu nah ist ihr Herstellungsverfahren an Billiglösungen wie Vinyl oder Laminat. Ein vergleichsweise günstiges und robustes Trägermaterial wird mit einer hauchdünnen Schicht versehen – sei es eine Farbfassung, ein Druck oder Furnier. Diese gibt vor, es handele sich um ein wertvolleres Material. In der Vergangenheit ist dies oft mehr schlecht als recht gelungen, insbesondere bei Fliesen. Denken wir nur an die Achtziger- und Neunzigerjahre, als „Marmoroptik“ für Lieblosigkeit im Badezimmer stand: grauenhaft gezeichnete Motive ohne Variation, keine oder nur schlecht umgesetzte Haptik und das immer gleiche, kleine Format.

Doch halt! Durch technische Innovationen in den Nuller- und frühen Zehnerjahren hat die Imitatfliese ihren schlechten Ruf – zumindest branchenintern – längst abgelegt. Den größten Anteil daran trägt die Einführung des Digitaldruckverfahrens. Dabei werden spezielle, pigmentierte Drucktinten auf die Oberfläche der Keramik oder des Feinsteinzeugs aufgebracht. Der Prozess ähnelt dem eines normalen Tintenstrahldruckers, nur dass keramische Farben zum Einsatz kommen, die bei hohen Temperaturen eingebrannt werden. Seit etwa zehn Jahren bieten digitale Drucktechnologien eine extrem hohe Auflösung, oft über 1.000 dpi, sodass feine Details wie Maserungen, natürliche Farbverläufe oder sogar 3D-Texturen täuschend echt nachgebildet werden können. Und das Beste: Jede Fliese kann ein individuelles Muster erhalten.

Ein Blick in die Geschichte räumt weitere Zweifel aus. Materialimitate sind kein Phänomen der Moderne, sondern wahrscheinlich so alt wie die Wohnkultur selbst. Auch wenn sie heute Massenware sind, so stehen Imitatfliesen doch in der Tradition der sogenannten Fauxmalerei – einer Spielart des Trompe-l'œil. Mithilfe dieser seit der Antike praktizierten handwerklichen Maltechnik werden natürliche Materialien wie Holz, Stein oder Marmor durch Farbe und Pinselstriche täuschend echt imitiert, um kostspielige Materialien oder schwer zu bearbeitende Oberflächen nachzuahmen. Imitatfliesen funktionieren kognitiv nahezu identisch: Zwar ist die Technik eine andere, aber der kleine Serotoninschub, der einen durchfährt, wenn man merkt, dass man durch ein perfekt gemachtes Imitat genüsslich getäuscht wurde, ist damals wie heute derselbe.

Also ist es akzeptabel, ein Faible für das Falsche zu haben? Sind wir bereit, das Konzept des „Originals“ zu hinterfragen? Ich denke, wir waren es schon immer. Nur muss es eben gut gemacht sein.

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