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imm cologne 2014: Imperium der Klassiker

Im geschmeidigen Retrolook: Die 65. Kölner Möbelmesse imm cologne 2014 lässt den Klassikern den Vortritt. 

von Norman Kietzmann, 21.01.2014

Die 65. Kölner Möbelmesse imm cologne 2014 ist nach fünf Fachbesucher- und zwei Publikumstagen zu Ende gegangen. Mit 120.000 Besuchern aus 129 Ländern konnte das Ergebnis von 2012 leicht übertroffen werden, als die Möbelschau zuletzt von der Einrichtungsmesse LivingInteriors begleitet worden war. Doch trotz gestiegener Besucherzahlen und stärkerer Internationalität der Aussteller: Es bliebt ein fader Nachgeschmack angesichts der gezeigten Neuheiten, die im geschmeidigen Retrolook als Staffage für die eigentlichen Stars dieser Messe dienten: die schier übermächtige Armee der Klassiker. 

Zeitreisen waren früher eine mühsame und keineswegs ganz ungefährliche Angelegenheit. Roman- und Filmhelden mussten plutoniumgetriebene Sportwagen oder futuristische Technikkugeln besteigen, um der Gegenwart zu entfliehen. Wie der Sprung durch die Epochen mit deutlich mehr Komfort gelingt, haben die Besucher der Kölner Möbelmesse imm cologne vergangene Woche erfahren. Ausgestattet mit bequemen Sesseln und Sofas, steuerte die Auftaktschau des neuen Möbeljahres das derzeit beliebteste Ziel für designaffine Zeitreisende an: die späten fünfziger bis frühen sechziger Jahre. Eine Zeit, als die Moderne den Wohnraum eroberte und der Alltag in scheinbar ruhigeren und geordneteren Bahnen verlief. 

Das Rezept, dem fast alle Hersteller und Designer zurzeit verfallen sind, klingt ungefähr so: Man nehme simple, archaische Möbelformen aus Massivholz, die den Klassikern von Hans Wegner, Arne Jacobsen oder Florence Knoll Referenz erweisen und kombiniere sie mit Stoff- und Lederbezügen in Petrol, Brombeere oder Altrosa. Natürlich darf eine gewisse Würze dabei nicht fehlen – eine Rolle, die nun schon seit einiger Zeit die Buntmetalle Kupfer und Messing übernommen haben. Abgestimmt wird das Ganze mit einer Prise Marmor und fertig ist die wohlig-weiche Retrowelt, die als Kulisse für eine Folge der Fernsehserie Mad Men dienen könnte. 

Angriff der Klassiker
Dass die gefühlte Zeit einer Messe um mehr als 50 Jahre zurückliegt, mag zunächst ein wenig sonderbar erscheinen. Doch die Uhren ticken in der Möbelbranche schon seit einigen Jahren etwas anders. „Ich kann verstehen, warum das passiert: Es ist eine Reaktion gegen Trends und kurzlebige Produkte. Gegen die Wegwerfkultur“, erklärt Louise Campbell am Rande ihrer Präsentation von Das Haus in Halle 2.2. Auf einem sechzehn Meter langen Bett konnten sich die Besucher dort von den Strapazen des Messerundgangs erholen, während eine freistehende, alte Badewanne den Wohlfühleffekt – zumindest im Gedanken – vervollständigte. Damit der Hang zur Gemütlichkeit keinen Riss bekam, hatte die Gegenwart zwar nicht gleich ausgedient. Doch das Neue wurde als gefälliges Beiwerk für die eigentlichen Stars dieser Messe verstanden: die scheinbar unbesiegbare Riege der Klassiker.


Dass der Blick in die Archive durchaus Überraschungen hervorbringen kann, zeigten die Vereinigten Spezialmöbelfabriken (VS) mit einer Möbelkollektion von Richard Neutra. Entwürfe wie der Boomerang Chair (1942) oder der Cantilever Chair (1929) waren bisher allein als Einzelstücke oder Kleinserien für die Villenbauten des österreichisch-kalifornischen Architekten angefertigt worden, während Entwürfe wie der Lovell Easy Chair (1929) überhaupt noch nicht gebaut worden waren. Dass die Rechte nun von den Erben Neutras erworben wurden und die Arbeiten erstmals im Rahmen einer Möbelmesse gezeigt werden konnten, kam nicht nur einer kleinen Sensation gleich. Es hat auch die Messlatte für die übrigen Aussteller deutlich nach oben gelegt.

Neue Farben, Alte Bekannte
Schon im Vorfeld der Messe wurden die Karten neu gemischt. Schließlich sind auch Klassiker keine trägen Naturen und wechseln von Zeit zu Zeit ihren Rennstall wie die Fahrer der Formel 1. So erwarb Artek jüngst die Lizenzen an den Möbeln des finnischen Designers Yrjö Kukkapuros und präsentierte dessen bekanntesten Entwurf wie eine frisch erlegte Trophäe: den poppigen Sessel Karuselli, der mit seiner weißen Kunststoffschale auch nach 50 Jahren wie eine eben gelandete Raumkapsel anmutet. Auf erfolgreichem Beutezug war auch Cassina und übernahm im vergangenen Jahr den italienischen Möbelhersteller Simon Collezione mitsamt der Arbeiten von Carlo und Tobia Scarpa, Marcel Breuer und Meret Oppenheim, deren von Vogelfüßen getragener Tisch Traccia (1939) am Rhein die Blicke auf sich zog.

Andere Klassiker erhielten frisch vor Messebeginn eine Verjüngungskur. Farbe hieß die wirkungsvolle Geheimwaffe, mit der Unternehmen wie Thonet ihre Klassiker in ein neues Licht rückten. Ganz neu ist diese Strategie zwar nicht. Bereits 2010 hatte Cassinas Art Director Piero Lissoni den Stahlrohrgestellen Le Corbusiers und Charlotte Perriands eine kräftige Farbpalette verordnet und damit die Blaupause für den Trend der Stunde geliefert. Ein Gutes hat diese Entwicklung aber doch: Indem die Bauhaus-Stahlrohr-Ikonen ihr chromglänzendes Gewand ablegen, verlieren sie den speziellen Charme von Zahnarztpraxen-Bestuhlungen und werden für den Wohnraum rehabilitiert. Dasselbe Ziel verfolgte auch der Möbelhersteller System 180, der mit sechs neuen Farben die Wohnzimmertauglichkeit seines bisher vor allem in Büroräumen anzutreffenden Programms unter Beweis stellen wollte.

Ausweitung der Designzone
Doch nicht nur die Möbel selbst werden durch den Einsatz von Farbe flexibler und anpassungsfähiger. Immer häufiger werden bestehende Kollektionen von passenden Accessoires ergänzt, mit denen die Hersteller auch weniger liquiden Käuferschichten den Einstieg ins Designsegment ermöglichen wollen. Eine eigene Accessoire-Kollektion stellte e15 vor. Die von Philipp Mainzer, Mark Braun und Jan Philip Holler entworfenen Arbeiten umfassen hölzerne Schneidebretter, marmorne Buchstützen, aus Messing gefertigte Briefbeschwerer oder aus Kupfer gearbeitete Tabletts. Auch Eric Degenhardt vervollständigte seine Möbelentwürfe für Böwer mit der stählerne Schalen- und Tablettserie Porter, die weiche Rundungen und klare Kanten miteinander in Einklang bringt. 

Dass Komfort und Geschwindigkeit keinen Widerspruch bilden, bewiesen einige neue Polstermöbel. Das Schöne dabei: Wer schnell sein wollte, brauchte gar nicht erst aufzustehen. Ob Jörg Boner mit dem Sitzprogramm Oyster für Wittmann oder Alfredo Häberli mit dem Sessel DS-110 für De Sede: Die Möbel erinnern an die Sitze testosterongeladener 70er-Jahre-Sportwagen, hinter deren Steuer nicht Hänflinge wie Justin Bieber, sondern einzig Kaliber wie Tom Selleck alias Magnum eine gute Figur abgeben können. Ein Zeitsprung aus den siebziger Jahren zurück in die Gegenwart gelang Ligne Roset mit dem Sofa Prado von Christian Werner. Das Möbel ist eine zeitgemäße Neuinterpretation der Sitzlandschaft: Auf einem flachen, puristischen Daybed können kissenartige Rückenlehnen frei bewegt und unterschiedlichen Situationen angepasst werden – ganz gleich, ob die Kinder spielen wollen oder Freunde zu Besuch kommen.

Innere Werte
Wie ein übergroßer Wattebausch wirkt der Zweisitzer Swell, den der schwedische Designer Jonas Wagell für Normann Copenhagen entworfen hat. Seine üppigen Rundungen verdankt der Sessel den großzügig gepolsterten Rücken- und Armlehnen, die ihm die Anmutung eines aufgehenden Brotteigs verleihen. Auf skandinavischen Pfaden wandelten Jehs + Laub mit ihrem Sitzprogramm Elm für Cor. Parallel zum 50. Jubiläum des Sitzklassikers Conseta sollten neue gestalterische Wege beschritten werden, indem die stets innenliegende Holzstruktur der Cor-Polstermöbel nach außen gekehrt wurde. „Jedes Detail ist auf Anhieb sichtbar und überrascht mit vielen Feinheiten“, erklären die Gestalter, die den aus Eiche oder Nussbaum gefertigten Gestellen voluminöse Kissen und Sitzpolster gegenüberstellen. 

Auch das niederländische Möbellabel Arco präsentierte seine Neuheiten in Köln und brachte eine derzeit schwer angesagte Möbeltypologie aus dem Lot: den Sekretär. Joy Zeta heißt der aus Holz gefertigte Werksentwurf, der auf Hinterbeine verzichtet und stattdessen nur mit seinen diagonal gestellten Vorderbeinen an der Wand lehnt. Eine materielle Verschlankungskur verordnete Werner Aisslinger seinem Sessel Chairman für Conmoto, dessen dünne Sitzschale aus einem dreidimensional verformten Filzfleece gefertigt wurde. Der Vorteil des weichen wie leichten Werkstoffs: Weil die Sitzschale zugleich als Polsterung dient, kann auf eine zusätzliche Materialschicht verzichtet werden. Austariert von einem puristischen Holz- oder Metallgestell, soll die Innovation nicht als Gimmick erscheinen, sondern mit zeitlosen Formen eine möglichst lange Lebensdauer erzielen.

Fehlender Biss
Was von dieser Messe bleibt, ist dennoch ein durchwachsenes Gefühl. Es ist gut, dass die Unternehmen ihre Sortimente breiter aufstellen und auch für eine jüngere Zielgruppe leichtere Einstiegsmöglichkeiten anbieten. Doch vielen Neuheiten fehlt schlichtweg der Biss, um aus dem gefälligen Retro-Einerlei hervorzutreten. Was für Unternehmen, die selbst eine Vielzahl von Klassikern im Programm führen, als verkaufsfördernde Strategie wirkt, ist vor allem für jüngere Hersteller fatal. Wer will schon eine halbherzig auf Klassiker getrimmte Neuheit erwerben, wenn es ebenso gut ein Original sein kann? Hinzu kommt, dass kein Möbel bislang als Klassiker geboren wurde. Selbst die Ikonen von Breuer, Mies und Eames konnten ihren Klassikerstatus nur deswegen erreichen, weil sie ihrer eigenen Zeit voraus waren. Von diesem Umstand sind die rückwärts zeitreisenden Neuheiten dieser Messe weit entfernt.

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