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Nordisch dynamisch

2000-2020: Über den Aufstieg der New-Nordic-Marken

1999: Normann Copenhagen. 2000: Bolia. 2002: Hay. 2005: Ferm Living. 2006: Mater und Muuto. Ab der Jahrtausendwende erfasste ein regelrechter Gründungsboom die dänische Designszene. Binnen weniger Jahre etablierte sich in Start-up-Manier eine ganze Reihe neuer Marken. „New Nordic“ – das griffige Label für den Boom war schnell gefunden, zumal die nordischen Länder sowieso gerade Konjunktur hatten.

von Jasmin Jouhar, 19.10.2020

In der Mode, in der Gastronomie, in der Literatur, in der Architektur, in der Tech-Szene: Der Norden hatte seinen Moment. Doch bei diesem einen Moment ist es nicht geblieben, der Gründungsboom hat die Designbranche dauerhaft verändert. Die Neuen sind nicht nur gekommen, um zu bleiben. Sie haben die Spielregeln umgeschrieben, nach denen Möbel und Accessoires entworfen, hergestellt und verkauft werden. Wie wir uns heute einrichten, zuhause, im Büro, im Restaurant oder Hotel, hat viel mit dem Erfolg der Neuen zu tun.

Der Star ist die Marke
Der neue Boom des nordischen Designs ging von Marken aus, von Unternehmen mit selbstbewussten, mutigen, kreativen Gründerpersönlichkeiten. Ganz anders in der längst klassischen Epoche des Mid-Century, für die bis heute vor allem die großen Designernamen stehen. Hans J. Wegner, Poul Kjærholm, Børge Mogensen, Finn Juhl, Alvar Aalto oder Arne Jacobsen gelten als Garanten für gute Gestaltung, ihre Entwürfe werden entsprechend hoch gehandelt. Natürlich kennt man auch traditionsreiche Hersteller wie Fritz Hansen, Carl Hansen, Fredericia, Artek oder Louis Poulsen, aber die Stars sind doch die Gestalter. Heute ist es umgekehrt: Man kennt viele der Gestalterinnen und Gestalter, aber die Stars sind die Brands.

Produktwelten
Unternehmen wie Hay, Muuto, Menu oder Ferm Living denken sehr strategisch und präsentieren sich in ihrer Kommunikation als starke Marken. Sie versuchen, ästhetisch einheitliche Auftritte zu schaffen und den Kundinnen und Kunden komplette Produktwelten zu offerieren. Wer, wie Ferm Living, mit Postern, oder, wie Menu, mit Küchenutensilien, oder, wie Northern, mit Leuchten, angefangen hat, bietet heute von der Vase über den Beistelltisch bis zur Sofalandschaft das ganze Einrichtungspaket aus einer Hand. Als wollte man bei der Sortimentstiefe Ikea Konkurrenz machen.

Spülschüsseln und Geschirrhandtücher
Doch die kleinen Anfänge sind nicht zu unterschätzen, denn damit haben die New-Nordic-Brands das Fundament ihrer Erfolgsgeschichte gelegt, sowohl finanziell als auch ästhetisch. Zu den ersten Produkten von Normann Copenhagen gehörte eine quietschrote, wabbelige Spülschüssel aus Silikon mit passender Bürste. Muuto reüssierte mit einem Aufbewahrungskorb aus PET-Filz. Es gab eine Zeit in den Nullerjahren, da wollte jeder die neonfarbenen Geschirrhandtücher haben, die das niederländische Duo Scholten & Baijings für Hay entworfen hatte. Hay hat mit seiner Textilkollektion das schnöde Tuch überhaupt erst zum ikonischen Designobjekt geadelt, zahllose Nachahmer folgten mit ähnlichen Entwürfen. Dass Produkte oder Strategien der jungen Marken so oft kopiert werden, beweist den Einfluss des New Nordic. Alteingesessene skandinavische Polstermöbelhersteller machten sich aufgeschreckt daran, ihr Kerngeschäft auszudehnen und ebenfalls Komplettkollektionen aufzubauen.

Die nächsten Generationen
Zudem trat in den vergangenen Jahren eine zweite, sogar dritte Generation von Unternehmen auf den Plan, um das Erfolgsrezept zu variieren. Hem aus Stockholm beispielsweise, 2014 gegründet, setzt ganz auf den Onlinevertrieb seiner Produkte und entwickelte ein Flat-Pack-Sofa, das auf eine EU-Transportpalette passt. Doch der Einfluss des New Nordic reicht über Skandinavien hinaus, wie eine Personalie aus diesem Sommer zeigt: Branchengröße Vitra hat Christian Grosen Rasmussen als neuen Designchef engagiert. Grosen hatte zuerst einige Jahre bei Fritz Hansen gearbeitet und danach bei Muuto. Er bringt also geballte Scandi-Kompetenz mit in die Schweiz.

Frisches Geld, neue Märkte
Und wie geht’s weiter bei den New Nordics? Zum Kopenhagener Designfestival 3 Days of Design im September bezog Ferm Living gleich ein ganzes Haus im ehemaligen Militärhafen. Das historische Gebäude dient als Showroom, Headquarter und Shop: Kleinere Produkte wie Kissen, Kerzenständer oder die altbekannten Poster können gleich mitgenommen werden. Eine geschlossene Markenwelt, inszeniert als heimeliges Zuhause mit offenem Kamin, das die Kundinnen und Kunden am besten gar nicht mehr verlassen. Interessant auch die Bewegungen im Hintergrund: 2017 erwarb der amerikanische Möbelhersteller Knoll Muuto, 2019 zog Herman Miller nach und kaufte die Mehrheit von Hay. Den Skandinaviern bringt das frisches Geld fürs Wachstum und hilft beim Einstieg in den für Europäer schwierigen US-Markt, die Amerikaner wiederum beschaffen sich neue Impulse fürs Portfolio. Es steckt also noch immer Dynamik im New Nordic.

Schnell, schneller, am schnellsten
Doch die Dynamik ist auch der große Knackpunkt. Denn die jungen skandinavischen Brands haben das Designbusiness beschleunigt, mit schnelleren Kollektionswechseln wie in der Mode, mit regelmäßigen Updates bei Farben und Stoffen, mit Capsule-Kollektionen und Kooperationen. So bleibt man im Gespräch und kann stetig Neues präsentieren – Social Media dürfte da zusätzlich als Beschleuniger gewirkt haben. Gerade die kleinen Produkte sind vergleichsweise günstig und entsprechend schnell gekauft. Wenn es nicht für ein neues Sofa reicht, dann wenigstens ein paar Dekokissen anschaffen.

Der Preis der Preise
Allerdings: Den Konsum derart anzukurbeln, wirkt mittlerweile überholt und wird in der Branche durchaus kritisch thematisiert. Eigentlich gilt ja, dass gutes Design langlebig sein soll. Und natürlich haben die günstigen Preise ihren Preis: Denn Design aus Skandinavien wird kaum noch im teuren Skandinavien produziert, sondern bestenfalls in Litauen, Polen oder Portugal. Häufig aber kommen die Sachen aus Fabriken in China oder Indonesien, wie in der Bekleidungsindustrie. Dass ökologische und soziale Nachhaltigkeit die aktuell großen Themen der Designbranche sind, haben die New Nordics natürlich längst verstanden. Bei den 3 Days of Design beeilten sich viele Hersteller und Marken, Zertifizierungen und Öko-Labels vorzuweisen. Kontrolliert angebautes Holz, recycelte Werkstoffe wie Kunststoff oder Aluminium und ein neutraler CO2-Fußabdruck sind mittlerweile schon fast zum Standard geworden. Sollten die Nordländer auch hier wieder Nachahmer finden, umso besser!

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers: 2000 - 2020: 20 Jahre Interior & Design

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