Panorama: Konstantin Grcics düstere Reise ins Ich
Panorama: Das Vitra Design Museum widmet Konstantin Grcic seine bislang größte Einzelausstellung.
Der Meister hat gerufen, und sie sind alle gekommen: zur Eröffnung. Genau zwei Wochen vor der Mailänder Möbelmesse hat das Vitra Design Museum in Weil am Rhein Konstantin Grcic mit seiner bislang größten Einzelausstellung beehrt. Panorama lautet der Titel der Schau, die alles andere als eine gewöhnliche Retrospektive sein soll.
Am Anfang war die Zukunft. Knapp drei Jahre währte die Vorbereitung für die Schau, die als Arbeitstitel zunächst tatsächlich das Futurum trug. „Weil ich noch lebe und in den Prozess involviert bin, wollte ich keine Retrospektive und schon gar keine chronologische oder didaktische Aufarbeitung“, sagt Konstantin Grcic anlässlich der Eröffnung. Die Ausstellung sollte vielmehr dazu dienen, die Arbeiten aus zwei Jahrzehnten erneut zu betrachten und somit lebendig zu halten. Die Lösung bestand in einer atmosphärischen Szenografie, die die drei Räume im Erdgeschoss des Museums bespielt. Anstelle neutraler Sockel und Vitrinen wurden thematische Räume geschaffen, in denen die typischen Grcic-Zutaten nicht fehlen dürfen: eine raue, industrielle Ästhetik, die zwischen Forschungslabor, Lagerhaus und Loft changiert und Anonymität mit Wohnlichkeit auf seltsame Weise zu verknüpfen vermag.
Blade Runner im Wohnzimmer
„Dieses Sich-Festlegen ist eine Qualität, die wir heute viel zu selten erleben“, erklärt Grcic. „Unsere Zeit ist eher geprägt von Unverbindlichkeit. Alles könnte so oder so sein. Darum war es spannend, ganz bestimmte Szenarien zu entwerfen.“ Dass in der Galerie des Vitra Design Museum soeben Verner Pantons Visiona-Ausstellung des Jahres 1970 aufgebaut wurde, ist kein Zufall. Sie bildet vielmehr den Auftakt für die von Mateo Kries kuratierte Grcic-Schau, die gegensätzlicher kaum sein könnte. Statt einer farbenfrohen, psychedelischen Höhle wird ein Hauch von Blade Runner in Gehrys Museum geholt.
Gleich im ersten Raum richtet sich der Fokus aufs Private. Life Space lautet der Titel für eine Wohnsituation mit abgehängter Decke, doppeltem Boden und kahlen Wänden, wie sie überall auf der Welt existieren könnte. Als eine Art Bindeglied zwischen der Architektur des Raumes und der Einrichtung dient ein modular aufgebautes Podest. Es liefert Wärme, Strom, Licht, Klang und Internetanschluss und macht den Raum funktionsfähig, ohne ihn zu verändern. Das Podest implantiert eine bewegliche Metaebene, die nach dem Plug & Play-Prinzip mit Möbeln, Leuchten und Objekten bestückt werden kann und den Raum durch kleine Höhenunterschiede und hüfthohe Wände in einzelne Zonen unterteilt.
Flughafen als Lebensort
„Ich wollte nicht wie in der Vergangenheit Zukunftsvisionen als komplette Szenarien entwerfen, in die alles integriert ist. Ich glaube, wir haben gelernt, dass sie sich selbst schon nach kürzester Zeit obsolet machen, weil sie zu unflexibel sind und damit schnell veralten“, sagt Konstantin Grcic. Hinter den raumhohen Fenstern öffnet sich der Ausblick über das Rollfeld eines Flughafens, koloriert in den unverwechselbaren Farben einer braungetönten Siebziger-Jahre-Verglasung. Der Unort Flughafen wird hier auf zweifache Weise interpretiert: als Verdrängung des Lebensraums an die urbane Peripherie. Oder als das genaue Gegenteil: Der Airport als Sinnbild eines vernetzten Knotenpunkts mit einer vollständigen Infrastruktur aus Restaurants, Cafés, Geschäften oder Wellness. „Ich wollte alle Festlegungen, was ein Wohnraum eigentlich ist, erst einmal hinterfragen“, erklärt Grcic. So könne die Funktion der Küche durchaus ausgelagert werden, sofern genügend Cafés und Restaurants in unmittelbarer Nähe sind.
Berechnende Bond-Höhle
Im zweiten Raum wähnt sich der Besucher in einer Höhle eines Bond-Schurken. Als Vorlage diente ein Serverraum, der in einem Felstunnel unterhalb der Stockholmer Innenstadt eingerichtet wurde und der Enthüllungsplattform WikiLeaks als Datenspeicher dient. Just in diesem Stollen befindet sich ein Besprechungsraum, der ebenso gut der Feder von Ken Adam hätte entsprungen sein können: eine runde Plattform aus Stahl, die von gläsernen Wänden umgeben ist und unter der Decke der Felsgrotte zu schweben scheint. Gesessen wird nicht auf gewöhnlichen Konferenzstühlen, sondern auf Grcics Klassiker Chair One (2004), den der Architekt Albert France-Lanord für die Ausstattung des Pionen White Mountains Serverzentrums verwendet hatte.
Die Atmosphäre der Grotte wird mithilfe einer Requisitenwand aus bemaltem Kunststoff reproduziert. Eine erhöhte Plattform in der Mitte des abgedunkelten Raumes dient als Arbeitstisch und Lagerfläche in einem. „Etwas Verschwörerisches haftet dem Raum an, als berge er ein Geheimnis“, umschreibt Grcic seinen Work Space. Zu sehen sind nicht nur fertige Produkte, sondern ebenso Prototypen, erste Modelle und Dinge, die nie in Produktion gelangt sind. Ein Film an der Rückwand des Raumes gibt Einblick in die Arbeitswelt, indem sich auf einem abgefilmten Computerbildschirm all jene Fenster und Funktionen öffnen und schließen, die den Tag des Designers begleiten. „Auch wenn wir digitale Fertigungstechnologien und Werkzeuge mit einbeziehen, ist die Realität noch immer sehr physisch und analog. Stühle, Möbel und Produkte müssen funktionieren und repariert werden können“, sagt der Designer.
Schutz vor der Welt
Der dritte und größte Ausstellungssaal schließlich richtet den Blick auf den öffentlichen Raum. Entlang der Wände spannt sich ein 30 Meter langes und 4,5 Meter hohes Panorama, das zum späteren Namensgeber der Ausstellung wurde. Das Zukunftsthema hatte deswegen keineswegs ausgedient. Schließlich wurde die Rückwand vom Londoner Science-Fiction-Designer Neil Campbell Ross gestaltet, der eine düstere, apokalyptische Stadtansicht ersann. Verstärkt wird dieser Eindruck von schwarz lackierten Sicherheitszäunen, die vor dem Panorama stehen und mit gelb blinkenden Leuchten vom Darüber-Klettern dringend abraten. „Der Zaun bietet Sicherheit. Er bietet dir Schutz vor der Welt, und gleichzeitig beschützt er die Welt vor dir“, erklärt Grcic. Umgeben von einer Gruppe der Stühle Chair One mit Betonsockel, thront ein großes Outdoor-Möbel, das der Münchner 2007 für Vitra Edition entwarf: Landen lautet der Name der Sitzplattform aus schwarzem Stahlblech, Stahlgittern und Gummipolstern, das der Mondlandungsfähre der Apollo-11-Mission Referenz erweist und den prominent platzierten Mittelpunkt der Ausstellung bildet.
Der Fluss der Dinge
Wie ein Gegenpol zu den Inszenierungen im Erdgeschoss wirkt der vierte Ausstellungsraum in der oberen Etage. In einem weißen, neutralen Vitrinensystem, das ebenfalls von Grcic entworfen wurde, lässt sich der Münchner plötzlich erstaunlich tief in die Karten schauen. Neben seine eigenen Produkte reihen sich „Referenzen, Fundstücke, Materialproben und Kunstwerke wie in einem Dominospiel aneinander: Ein Objekt erzählt eine Geschichte, die auf das nächste Objekt verweist, das wiederum an die Geschichte des nächsten anknüpft, und immer so weiter“, erklärt der 49-jährige das Prinzip.
So führt der gelbe Kunststoffstuhl Box (1976 für Castelli) von Enzo Mari, auf dem Grcic in seinem Münchner Studio arbeitet, zu gelben Archivboxen, einer gelben Reclam-Ausgabe der Bildergeschichte Vater und Sohn von E.O. Plauen bis hin zum 2012 entstandenen Kunststoffstuhl Pro von Flötotto. Extrudierte Tischprofile reihen sich neben ebenso extrudierte Spaghetti, während der Holzhocker Missing Object (2004 für die Galerie Kreo) klare Ähnlichkeiten zum blockartigen Macintosh Classic zeigt, Grcics erstem Computer. Es mag wie ein Widerspruch erscheinen, dass die Ausstellung mitten in dieser klassischen Präsentation sogar am stärksten wirkt. Indem Formen, Farben und Materialien vor den Augen der Besucher ineinanderfließen, gewähren sie nicht nur einen Einblick in Konstantin Grcics Gedanken. Ganz ohne technische Effekte beginnen die Dinge zu leben und zeigen das Menschliche hinter der industriellen Fassade. Genau davon hätte man gerne noch mehr gesehen.
Konstantin Grcic – Panorama läuft noch bis 14.09.2014 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein.