Perfekte Welle
Ein Kiosk an einem der legendärsten Surfstrände Australiens, ein Ateliergebäude in einem verrufenen Stadtteil Sydneys, ein öffentlicher Spielplatz und ein Waisenhaus in Thailand – was diese Projekte vereint, könnte ein Beleg für einen neuen Trend sein. Industrielle Profilwerkstoffe werden für junge Architekten zum bewusst gewählten Gestaltungsmittel.
Es ist günstig, robust und leicht zu verarbeiten: Wellblech galt seit seiner Entwicklung Mitte des 19. Jahrhunderts als rein funktionales Baumaterial. Doch dieses Image hat der Werkstoff längst abgeschüttelt. Architekten und Designer sind nicht nur von der einfachen Verarbeitungsweise und den geringen Kosten angetan, sie fasziniert vor allem die rohe, „ehrliche“ Oberfläche und der industrielle Charme des Materials, der gut in eine Epoche wirtschaftlicher Krisen zu passen scheint.
Blechcollage
Die Tin Shed („Blechhütte“) ist eine Ikone australischer Architektur: Als der Architekt Raffaello Rosselli mit der Aufgabe betraut wurde, eines der letzten verbliebenen Exemplare in Redfem, einem Statteil Sydneys, zum Atelier- und Bürohaus umzubauen, war er sich der Bedeutung der Aufgabe bewusst. Die Substanz war marode, daher entschied sich Rosselli die Wellblechfassade auseinanderzunehmen und einzulagern, um die Grundstruktur mit einer Holzkonstruktion erneuern zu können. Im Anschluss collagierte er aus den alten, teilweise verrosteten Metallelementen drei neue Fassadenseiten – die vierte besteht aus Sichtbeton. Ein Haus, das seinen Alterungsprozess mit Stolz nach außen trägt. Auch die neuen, großformatigen Fenster passte Rosselli stilistisch der rauen Architektursprache an: Gerahmt von korrodiertem Stahlblech durchstoßen sie das Wellblech und schaffen klare Verbindungen zwischen innen und außen.
Norwegisch-thailändische Freundschaft
Ein paar tausend Kilometer nordwestlich liegt Noh Bo, eine kleine Stadt an der thailändisch-burmesischen Grenze. Hier hin hat es das norwegische Architekturkollektiv TYIN verschlagen, das in Zusammenarbeit mit europäischen und thailändischen Institutionen Unterkünfte für Waisenkinder baut. Die meisten von ihnen sind Bürgerkriegsflüchtlinge aus Burma. Die Soe Ker Tie Houses sollen den Kindern nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern in erster Linie ein wirkliches Zuhause geben. Um die architektonische Identität zu stärken, benutzten die Architekten vor allem regionale Baumaterialien und -techniken: Sie kombinierten Bambusrohre als Fassadenverkleidung mit einem Wellblechdach. Die Materialien ähneln sich sich in ihrem Erscheinungsbild – durch die gewölbte Oberfläche. Wegen der speziellen, flügelartigen Dachform, die eine natürliche Belüftung der Schlafräume ermöglicht, werden die Häuser von den Dorfbewohnern Butterfly Houses genannt.
Auch bei einem weiteren Projekt von TYIN, Klong Toey Community Lantern genannt, wurde Wellblech mit Bambus kombiniert: Der Spiel- und Fußballplatz in Bangkok soll, als erstes Puzzlestück einer größeren Umstrukturierungsmaßnahme des Stadtteils Klong Toey, den einheimischen Kindern einen gemeinschaftlichen Versammlungsort geben. Die Konstruktion ist das Ergebnis jahrelanger Vorarbeit und vieler Gespräche mit den Bewohnern des Viertels: Neben der Möglichkeit, Fußball und Basketball zu spielen, gibt es eine kleine Bühne sowie Kletterbereiche und Sitzmöglichkeiten. Ein kleines Raumwunder mitten in Bangkok.
Hochwassergeschützter Kiosk
Am berühmten australischen Surfstrand Torquay steht seit kurzem ein Objekt aus alten, stählernen Spundwandprofilen, das auf den ersten Blick nicht einzuordnen ist. Ist es die Absicherung einer Baustelle, vielleicht ein alter Bunker oder doch etwa ein Kunstwerk? Auf einen Kiosk würden wahrscheinlich die wenigsten Betrachter kommen. Für den Architekten Tony Hobba ist die Wahl des Fassadenmaterials für den Third Wave Kiosk eine Referenz an seine Umgebung und soll Assoziationen zur Strandkultur wecken. Das Material wird normalerweise beim Bau von Kaimauern oder Hafenwänden eingesetzt. Mit der Verwendung von Spundwänden beim Bau eines Hauses dürfte der Architekt der erste gewesen sein, dabei macht die Verwendung auch aus ökologischer und finanzieller Sicht Sinn: Das zuvor beim Hochwasserschutz eingesetzte Material war kostengünstig und konnte vom Kioskbetreiber eins zu eins weiterverwendet werden. Dazu schützt es die Innenräume vor dem rauen Klima der australischen Küste. Kein Wunder also, dass sich der Kiosk innerhalb kurzer Zeit zum neuen Wahrzeichen Torquays entwickelt hat.
FOTOGRAFIE Mark Syke, Pisa Aalto, TYIN, Rory Gardiner
Mark Syke, Pisa Aalto, TYIN, Rory Gardiner