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Salone del Mobile 2014: Zurück zum Pop

Zwischen Swinging Sixties und Zirkus: Neuheiten der 53. Mailänder Möbelmesse.

von Norman Kietzmann, 16.04.2014

Die 53. Mailänder Möbelmesse und die 20. Ausgabe der Küchenmesse Eurocucina sind nach vier Fachbesucher- und zwei Publikumstagen zu Ende gegangen. Auch in diesem Jahr wurde das Wohnen nicht gleich auf den Kopf gestellt. Doch inmitten unzähliger Paletten an Massivholz-, Marmor- und Kupfermöbeln tauchten plötzlich wieder jene kindlich-experimentellen Nuancen hervor, die in letzten Jahren fehlten. Steht die Branche womöglich vor einem Umschwung?

Kein einziger Regentropfen. Erfahrene Mailand-Besucher werden diese drei Worte zunächst mit leichtem Unbehagen in ihren Kalendern vermerkt haben. Doch nicht nur das sonnige Wetter und die sommerlichen Temperaturen unterschieden diesen Salone del Mobile von früheren Jahren. Mit 357.000 Besuchern auf dem Messegelände konnte ein Zuwachs von acht Prozent gegenüber 2012 verzeichnet werden, als die weltgrößte Möbelschau zuletzt von der Küchenmesse Eurocucina begleitet wurde. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Besucherzahlen um insgesamt 13 Prozent. 

Farblicher Sinneswandel
Von einer neuen Aufbruchsstimmung in der Möbelbranche zu sprechen, mag sicher noch ein wenig verfrüht sein. Doch die Phase kollektiver Trostlosigkeit scheint zumindest in Teilen überwunden. Anstatt mit schweren, klobigen Schränken und graubeigen Bezügen Zeitlosigkeit zu suggerieren, wurde die Zeit als Fixpunkt wieder ins Visier genommen. Farbe heißt die verlässliche Allzweckwaffe, mit der Designer und Hersteller auf emotionale Werte setzen. Stand die Kölner Möbelmesse noch vor wenigen Monaten ganz im Zeichen zarter Pastelltöne, wurden die Farbregler nun deutlich nach oben gefahren. Kräftiges Rot, Blau, Gelb oder Türkis sollen nicht nur gute Laune verbreiten. In Kombination mit runden, fließenden Polsterformen verschieben sie die Retro-Referenz von den konservativen fünfziger Jahren geradewegs hinein in die Swinging Sixties

Poppige Wohnwelten
Die Regel bei der Farbauswahl ist einfach: Denn eine Farbe ist keine Farbe. Colour Blocking heißt der Effekt in der Mode, wenn Kleidungsstücke und Accessoires in mindestens zwei, drei Kontrastfarben aufeinanderprallen. Obliegt der Spielraum hierbei den Trägerinnern und Trägern, vereinen die neuen Möbelstücke den farblichen Vielklang in einem Objekt. Ganz gleich ob Hella Jongerius East River Chair für Vitra oder das Sideboard Legato von Claesson Koivisto Kune für Casamania: Durch das Zusammenspiel aus unterschiedlichen Farben verlieren die Möbel ihre wuchtige Größe und variieren ihre Erscheinung mit dem Blickwinkel des Betrachters. 

Auch Beistellmöbel, Leuchten und Accessoires werden in das Farbspiel einbezogen. Wie eine Gruppe bunter Drops wirkt die Leuchtenfamilie North von Eva Marguerre und Marcel Besau für e15. Kinnasand und Missoni zeigen Vorhangstoffe in kräftigen Farbverläufen, während Bisazza die poppigen Muster von Emilio Pucci an die Wände bringt. Ganz im Sinne des Sechziger-Jahre-Revivals agieren auch Re-Editionen wie der von Vitra neu aufgelegte Colour Wheel Ottoman von Alexander Girard aus dem Jahr 1967, der mit dreieckigen Farbfeldern und Zickzackmustern grafische Akzente setzt. (Meher über die Wiederauflagen der Mailänder Möbelmesse 2014 erfahren Sie in folgendem Beitrag.)

Zwischen LSD-Trip und DIY-Kultur
Wie ein Brückenschlag zwischen der Geburtsstunde der Op-Art und der Gegenwart wirkte die Installation Chair Lift im Moroso-Showroom in der Via Pontaccio. „Im täglichen Leben sind die Volumen, Formen und Funktionen eines Objekts variable Parameter, die nur scheinbar vorgegeben sind. Darum werden die Dinge häufig ganz anders genutzt, als es sich die Designer vorgestellt haben“, erklärte Martino Gamper. Während der gebürtige Südtiroler die Gestaltung der Sessel und Sofas übernahm, steuerte der Londoner Grafiker Peter McDonald die Farben und Muster der Bezüge bei. Schwungvolle Rückenlehnen, kugelartige Kopfstützen und Patchwork in Knallfarben erzeugen eine kindlich-bunte Spaßwelt, die zwischen LSD-Trip und DIY-Kultur changiert. Die Möbel gleichen universal einsetzbaren Werkzeugen, die schrill, bunt und lässig zugleich sind. Um den Bruch gegenüber den vergleichsweise zahmen Inszenierungen der letzten Jahre zu markieren, wurde sogleich der halbe Showroom entkernt und bildete im nacktem Betonkleid den adäquaten Kontrapunkt zu den Farbexplosionen des Designerduos.

Postmoderne Würze
Da passte es, dass die Muster von Memphis-Mitbegründerin Nathalie Du Pasquier zum Lieblingsobjekt der Messe avancierten. Zu sehen waren diese auf Kissen, Sitzbezügen und Umhängetaschen, mit denen Wrong for Hay den Trend-Nerv der zumeist jüngeren Besucher traf. Dass die Entstehung der Oberflächen um 30 Jahre zurück datiert, tat der Sache keinen Abbruch. Anders als viele andere Re-Editionen wurden die Entwürfe nicht als wiederaufgelegte Designfossile präsentiert, sondern als passende wie erschwingliche Accessoires für den Alltag. Dem Ruf der Postmoderne folgte auch der Möbelhersteller Porro, der sich bislang vor allem mit seinen puristischen Entwürfen unter der Regie von Piero Lissoni einen Namen gemacht hatte. Eine subtile Abkehr vom bisherigen Kurs markiert die Zusammenarbeit mit Alessandro Mendini, der die dekorativen Intarsien-Schränke Maggio und Schermo in limitierter Auflage entwarf. Ergo: Selbst Aufbewahrungsmöbel müssen nicht länger als neutrale Kuben verharren, sondern zelebrieren die neue Lust an der Oberfläche und rütteln den Wohnraum aus dem Winterschlaf.
Materielle Umdeutungen 
Ging es in den letzten Jahren vor allem darum, Archetypen zu destillieren, wagen sich immer mehr Gestalter aus dem sicheren Hafen der Symmetrie und Massivität hinaus. An Dynamik gewinnen auf diese Weise selbst Schwergewichte. Nendos Metallmöbelserie Softer than Steel für Desalto erweckt den Eindruck, als wäre sie aus Papier konstruiert. De Castelli bringt das Stahlregal Oxymore von Xavier Lust zum Tanzen. Und Konstantin Grcic lässt mit seiner Arbeitsstation Keyboard für Marsotto sogar Marmor rotieren. Den schmalen Grat zwischen Archaik und Leichtigkeit zu überqueren, gelingt den Brüdern Bouroullec mit ihrem Stuhl Uncino für Mattiazzi. Die aus Massivholz gefertigten Rückenlehnen und Sitzflächen wirken skulptural verformt und werden von filigranen Stahlstreben zusammengehalten, die sich vom Bauhaus ebenso emanzipieren wie von den großen skandinavischen Meistern. Sinnlichkeit bringt unterdessen der verstärkte Einsatz von Zedernholz ins Spiel, dessen unverkennbarer Duft sich in den Raum überträgt.

Gläserne Allianzen
Eine funktionelle Neubewertung erfährt Glas, das längst nicht nur als Lieblingsmaterial für Tische, Vasen oder Leuchten zum Einsatz kommt. Weil Kunststoff weiterhin in Ungnade gefallen ist, sorgt der mineralische Werkstoff für Transparenz im Sitzmöbelbereich. Die Folge sind ungewöhnliche Allianzen: So kombinieren die Brüder Bouroullec ihre Bank Diapositive von Glas Italia mit hölzernen Elementen, die als Sockel- und Armlehnenaufsatz sowohl Mensch wie Möbel vor Beschädigungen beschützen. Ebenfalls für Glas Italia lässt Ron Gilad bei seiner Serie Sublimazione Nussbaumfurnier beidseitig von Glasscheiben einfassen, sodass es über dem Boden zu schweben scheint. 

Stunde der Kinder
Für einen regelrechten Rummel sorgte die Installation von Maarten Baas in einer Garage unweit des Doms. Die Objekte tanzten, rotierten im Kreise, dazwischen blinkten bunte Lampen und obendrein erklangen die Fanfaren eines Vagabunden-Zirkus. Das Ergebnis war eine laute, bunte und befreiend naive Show, die Kindergeburtstag und Designbusiness in Einklang brachte. Als Vorbild für die großen Möbelmarken mögen diese limitierten Editionen sicher kaum dienen. Doch sie zeigen, dass die Branche wieder eine Portion Spaß vertragen kann. Hatte der Vogel Strauß der Möbelwelt in den letzten Jahren seinen Kopf noch tief in den Sand gesteckt, sind die Sinne nun wieder geschärft. In welche Richtung der Vogel laufen wird, muss sich allerdings noch zeigen.

Alle Beiträge aus unserem großen Themenspecial Salone 2014 lesen Sie hier. 

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