Salone del Mobile 2015: Schlümpfe im weissen Hemd
Alles in einem Topf: die Neuheiten der 54. Mailänder Möbelmesse.

Die 54. Mailänder Möbelmesse und die 28. Ausgabe der Lichtmesse Euroluce sind am Sonntag nach vier Fachbesucher- und zwei Publikumstagen zu Ende gegangen. Die Neuheiten variieren zwischen sinnlicher Verführung und asketischer Zurückhaltung – und beweisen durchaus Sinn für Humor.
Das Wetter hat es gut gemeint. Pünktlich zum Salone-Auftakt sprangen die Temperaturen auf sommerliche Werte, während der Regen – sonst ein regelmäßiger Begleiter der weltgrößten Möbelschau – erst am Wochenende mit orkanartigen Winden über die Stadt hinweg peitschte. 310.800 Besucher drängten auf das Messegelände in Rho. Ein souveräner Wert. Und doch musste die erfolgsverwöhnte Messe nach jahrelangem Wachstum erstmals einen Dämpfer hinnehmen. Gegenüber 2013, als der Salone del Mobile zuletzt von der Lichtmesse Euroluce begleitet worden war, markiert dieser Wert einen Rückgang um 4,5 Prozent. Eine Rolle dürfte hierbei zweifelsohne das sonnige Wetter gespielt haben, das viele Besucher aus den Messehallen in die Stadt zog. Doch mit den meteorologischen Umständen allein lässt sich der geringere Zulauf nicht erklären.
Archaik versus Dekor
Noch immer wissen die meisten Möbelhersteller nicht so recht, wo sie eigentlich hinwollen. Galt Deutschland lange Zeit als wichtigster Exportmarkt für italienische Unternehmen, ist nun China an diese Stelle gerückt. Besucherzuwächse wurden vor allem aus Russland, dem Mittleren Osten, Libanon, USA, Großbritannien und Indien vermerkt. Doch was will das heißen? Die Gestalter der diesjährigen Neuheiten haben sich für zwei Extreme entschieden: Während die einen auf dekorative Oberflächen, Muster und viel Farbe setzten, wählten die anderen den Weg der Archaik. „Design ist für mich wie ein weißes Hemd: Etwas, das weniger aus der eigenen Imagination als vielmehr aus einer kollektiven Erinnerung heraus entsteht“, erklärte David Chipperfield während der Präsentation seiner Tisch- und Bank-Familie Fayland im Showroom von e15.
Archaisch und unprätentiös traten zahlreiche weitere Entwürfe auf. Bartoli Design umwickelten für ihren Stuhl 1085 Edition für Kristalia einen Metallrahmen mit einer Hülle aus festem Kernleder und montierten ihn an hölzernen Beinen – wodurch das Möbel einen leicht provisorischen Anschein bekommt. Anstelle von filigran gearbeiteten Holzbauteilen ließ Konstantin Grcic seinen Holzstuhl Clerici für Mattiazzi aus Brettern zusammensetzen, die bewusst als solche erkennbar sind. Selbst Jean-Marie Massaud hielt sich mit seiner Vorliebe für organisch fließende Formen bei seinem puristischen Sitzsystem Steeve für Arper zurück. „Ein Design, das im Grunde gar kein Design ist“, kommentierte er am Messestand seinen Entwurf.
Anti-Design
Indem ein allzu perfekter und durchkomponierter Auftritt zugunsten einer „primitiven“ Erscheinung aufgegeben wird, soll Bodenständigkeit suggeriert werden. Das selbstverliebte Über-Design weicht einem Anti- oder No-Design – was mit Humorlosigkeit nicht zu verwechseln ist. Wie diese scheinbaren Gegensätze in Einklang zu bringen sind, zeigt das meistdiskutierte Möbelstück dieser Messe: der herrlich aus den Fugen geratene Kunststoff-Sessel Sam Son, den Konstantin Grcic für Magis entworfen und dabei Armlehnen und Rücken zu einer „Wurst“ verschmolzen hat. Auch hier kokettiert das Möbel mit der Abwesenheit des Designers und legt die Vermutung nahe, eine träge Masse hätte allein durch die Wirkung der Schwerkraft zu ihrer endgültigen Form gefunden.
Möbel mit Kindchen-Schema
Ausflüge ins Kindliche unternimmt ebenso das schwedische Designtrio Front in Kooperation mit Gebrüder Thonet Vienna. Der Sessel Hideout verfügt über hohe Lehnen aus Flechtwerk, die an die Segelohren des Elefanten Dumbo erinnern. Körperteile spielen auch bei der Kollektion Réaction Poétique eine Rolle, bei der Jaime Hayon für Cassina kleine Nasen und Ohren aus den hölzernen Tischen und Ablagen herauswachsen lässt. Mit seinem kugelrunden Fuß könnte der Betontisch Saen, den die Brüder Gabriele und Oscar Buratti für Alias entworfen haben, als Requisite für jede Schlumpf-Verfilmung herhalten. Und David Adjayes Zweisitzer Double Zero für Moroso blickt mit derart großen Kulleraugen in den Wohnraum, das man ihn einfach gernhaben muss.
Unscharfe Konturen
Sinnliche Werte erzeugt das Zusammenspiel aus Farbe und Transparenz. Mit dem Aufbewahrungssystem Box in Box überträgt Philippe Starck für Glas Italia das Matroschka-Prinzip auf den Möbelbau und platziert gläserne Kuben in kräftigem Gelb, Orange und Grün inmitten transparenter Glasvolumina. Die Überschneidung unterschiedlicher Farben gelingt Piero Lissoni mit dem Containerset Overlap für Kartell, während Nendo die Außenkanten seines Tisch-Systems Soft für Glas Italia mit subtilen Farbverläufen überzieht. Weil die Milchglasflächen durch rückseitige Farbdrucke verstärkt werden, erscheinen die Konturen der Möbel unscharf. Farbe spielt ebenso bei den Polsterbezügen eine wichtige Rolle. An eine im Wohnraum gelandete Galaxie mutet der prismatisch gefaltete Sessel Gemma an, den Daniel Libeskind für Moroso entworfen und mit einem silber-kobaltblauen Farbverlauf überzogen hat. Poppig wirken die wiederaufgelegten Memphis-Muster von Michele De Lucchi und Nathalie du Pasquier, mit denen die Polstermöbel von Kartell ab sofort bezogen werden können.
Aus der Schatzkiste der Reeditionen wurden weitere Fundstücke ans Tageslicht befördert. Für Dynamik sorgt Cassina mit einer Neuauflage des Tisches Rio (1962) von Charlotte Perriand. Die runde Tischfläche ist in sechs Segmente unterteilt, die abwechselnd einen leichten Sprung in der Tiefe vollziehen und das Möbel optisch rotieren lassen. Auch der Schreibtisch Stadera, den Franco Albini 1954 für ein Privathaus in Genua entwarf, ist bei Cassina in die Serienfertigung gelangt. Das schlanke Stück verfügt über eine fragmentierte Oberfläche, die asymmetrisch von einem einzelnen Fuß austariert wird. Driade nimmt Enzo Maris Sessel Elisa sowie den Stuhl Sof-Sof aus den siebziger Jahren in Produktion, die mit ihren kissenartigen Polstern und filigranen Stahlgestellen aktueller denn je wirken. Und anlässlich von Tapio Wirkkalas hundertstem Geburtstag bringt Poltrona Frau den bislang nur in Miniauflage hergestellten Tisch Bird in Serie, der an ein Möbel gewordenes Pflanzenblatt erinnert.
Wohnen wie im Garten
Eine Affinität zur Natur bewiesen vor allem die Inszenierungen: Kaum ein Hersteller ließ es sich nehmen, den eigenen Messestand oder Showroom mit unzähligen Topfgewächsen in einen temporären Garten zu verwandeln. Selbst konservative Aussteller vermochten ihren Produkten so einen frischeren Auftritt zu verleihen. Das naturnahe Lebensgefühl wurde jedoch nicht nur als Kulisse verstanden, sondern ebenso als Impulsgeber für das Wohnen interpretiert. So präsentierte Moooi mit dem Shift Dining Chair von Jonas Forman einen Hybrid aus Klappstuhl und bequemen Sessel, bei dem ein schlanker Metallrahmen mit einem gestrickten Überzug versehen wird. Zum Einsatz soll dieses Möbel weniger im Garten oder auf der Terrasse als vielmehr in den Küchen oder Esszimmern kompakter Großstadtwohnungen kommen.
Alles in einem Topf
Was bleibt von dieser Messe, ist dennoch ein ambivalentes Gefühl. Zu ähnlich und zu austauschbar wirken viele Neuheiten, bei denen die immer selben Trendzutaten in einen Mixer geworfen wurden. Dabei ist es gut, dass die Retro-Karte weniger offensiv gespielt wurde als während der Kölner Möbelmesse vor wenigen Wochen. Ohnehin verbirgt sich das Neue immer weniger in der Form als in subtil abgewandelten Dimensionen. Dass kleinteilige Möbel diesen Salone del Mobile dominierten, erscheint konsequent. Schließlich haben Wohnwelten aus einem Guss schon lange zugunsten eines Patchworks ausgedient. Die Folge ist keine Entweder-oder-Entscheidung zwischen Archaik oder Dekoration, sondern eine beständige Durchmischung der Stile. In diesem Sinne hat die Messe den Nerv durchaus getroffen. Wirklich begeistern vermochte dennoch nichts. Sonnenschein hin oder her.
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