Staatsmänner in Hängematten
Sagenhaft erfolgreich: Auf dem Alu Chair von Ray und Charles Eames sitzen CEOs, Kanzlerinnen und Stararchitekten.
Bereits seit fast 60 Jahren ist der Aluminium Chair von Ray und Charles Eames auf dem Markt. Doch trotzdem schlägt er die meisten neuen Bürostühle in Sachen Glamour und Eleganz noch immer um Längen. Und wird deshalb von Politikern, Wirtschaftsbossen und Kreativen gleichermaßen geliebt. Über eine visuelle Fantasie der Moderne.
Die ganze Genialität dieses Entwurfs ist mit einer einzigen Handbewegung auf den Punkt gebracht: Wenn der Arbeiter in der Vitra-Fabrik die beiden Seitenträger des Aluminium Group Chair in die Hände nimmt und einmal wendet. Dabei werden die Seitenträger nach innen gedreht, und die textile Sitzfläche kann straff darüber gespannt werden. Zwei Spannbügel halten das Ganze auseinander. Und damit ist der Stuhl im Prinzip auch schon fertig, denn letztlich ist er nichts anderes als eine besonders fest gezogene, aber zugleich federnde Hängematte (im Film unten ist der Moment ab Minute 3.19 zu sehen). Für Eames Demetrios zeigt sich darin die ganze konstruktive Intelligenz des Entwurfs seiner Großeltern: „Sie konnten den Stuhl nur entwerfen, weil sie sich klar waren, was die Aufgabe des Arbeiters in der Produktion sein würde“, sagt der Eames-Enkel und Direktor des Eames Office beim Gespräch in einem Mailänder Garten. „Diese Konstruktion zeigt ein so profundes Verständnis von Herstellungsprozessen, dass sich alle anderen Details daraus ableiten lassen. Deswegen ist er auch einer meiner liebsten Eames-Stühle – wegen der Erfahrung und des Wissens, die daran sichtbar werden.“
DNA: Outdoor
Die Idee mit der Hängematte erscheint gar nicht so weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass Ray und Charles Eames den Aluminium Group Chair ursprünglich als Gartenstuhl konzipiert hatten. Alexander Girard suchte vergeblich passende Outdoor-Möbel für Eero Saarinens modernistisches J. Irwin Miller House und bat seinen Freund Charles um Hilfe. Etwa zur gleichen Zeit hatte die Aluminium Corporation of America (Alcoa) die Eames und andere Designer eingeladen, neue Anwendungen für das Leichtmetall zu entwickeln. Ihr frisch erworbenes Wissen über die Aluminiumverarbeitung nutzten Ray und Charles Eames, um damit einen durch und durch originellen Stuhl zu entwerfen. Wie originell, das zeigt Jonathan Olivares in seinem Buch A Taxonomy of Office Chairs von 2011: Er listet darin für zahllose Bürostuhlmodelle von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart jeweils die Innovationen in Gestaltung, Funktion und Materialität auf. Mit acht Erwähnungen von der Rückenlehne bis zum Fuß ist der Alu-Stuhl da ganz vorne dabei. Der amerikanische Hersteller Herman Miller vertrieb den Eames-Entwurf ab 1958, zunächst für drinnen und draußen gleichermaßen. Doch die Anforderungen für solch eine doppelte Nutzung waren zu hoch, die ursprüngliche Netzbespannung wurde aufgegeben, und die Aluminium Group etablierte sich zunächst vor allem für Wohnbereiche.
Ultimativ executive
Wenn wir heute den Aluminium Group-Stuhl sehen, dann jedoch häufig auf Fotos vom Büro eines Politikers, von einem Plenarsaal, einer internationalen Konferenz oder dem Boardroom eines Konzerns. Oder anders gefragt: Können Politiker wie Angela Merkel, Joachim Gauck und Gerhard Schröder oder Unternehmen wie Facebook, Novartis, Phillips und die Telekom irren, wenn sie auf die Aluminium Group setzen? Der einstige Gartenstuhl hat heute den Nimbus des ultimativen Executive Chair. Kreative und Künstler, Schauspieler und Architekten (Rem Koolhaas! Kazuyo Sejima! Meinhard von Gerkan!) lassen sich ebenfalls oft darauf nieder, wenn sie einen gewissen Status erreicht haben – und damit die Liquidität, um sich den Stuhl leisten zu können. Zur Not tut es auch ein gebrauchtes Modell, der Wertverlust ist zudem gering. Der Imagewandel vom Wohnmöbel zum modernen Chefsessel schlechthin setzte in den siebziger Jahren ein – eine Voraussetzung dafür war das drehbare Untergestell mit Rollen, das Mitte der sechziger Jahre eingeführt worden war. Mit ihrer Corporate-Karriere verschwand die Aluminium Group allerdings aus den Wohnmagazinen. In den poppig-bunt-organischen Wohnwelten der Siebziger war für den klaren, rationalistischen Entwurf offenbar kein Platz.
Der moderne Thron
„Die Stühle verbinden Eleganz und Einfachheit mit hoher Qualität und Bequemlichkeit“, erklärt Eames Demetrios die Dominanz der ursprünglich Leisure Group genannten Produktfamilie an Konferenztischen, in Lobbys und Chefbüros. „Ich muss nicht alles wissen über Autos, um zu verstehen, dass der Tesla fantastisch ist. Und so ist es auch mit dem Alu Chair – man muss kein Designstudent sein, um zu verstehen, dass das großartiges Design ist“, so Demetrios weiter. „Der Stuhl liefert die visuelle Fantasie des Modernen, aber mit ganz altmodischem Komfort.“ Es sind also gerade seine Klarheit und Nüchternheit, seine modernistische Aura, die ihn zum perfekten Repräsentationsmöbel unserer Zeit machen, auch fast 60 Jahre nach seiner Markteinführung. Denn traditionelle Chefstühle erinnern an Clubsessel, sind massiv und schwer, wirken konservativ und elitär, fast wie Throne für die Könige der Büros. Doch welcher CEO, welche Politikerin will heute noch wie ein Monarch erscheinen? Die Stühle der Aluminium Group dagegen sind hochwertig und groß genug, um repräsentativ zu sein, zugleich strahlen sie jedoch eine ganz zeitgenössische Leichtigkeit und Beweglichkeit aus – fast wie eine Hängematte eben.
Führung durch die Produktion des Alu Chair
Wer sich selbst ein Bild machen will von der Produktion der Aluminium Group, kann bei Vitra in Weil am Rhein an einer Führung durch die von Frank Gehry entworfene Produktionshalle teilnehmen. Dazu gehört auch ein Besuch im Vitra-Testcenter, wo die Qualitätskontrolle stattfindet.
Weitere Informationen und Anmeldungen:
www.vitra.com/campus
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