Stockholm Furniture Fair 2017: Feuer und Eis
Analoge Utensilien für den Rückzug in die heimischen vier Wände: Messeneuheiten aus dem hohen Norden

Eislaufen mit David Chipperfield, Zirkusschau mit Jaime Hayon, Kindergeburtstag mit White Arkitekter und ein Spiegelkabinett von Daniel Rybakken: Die Stockholmer Möbelmesse hat den eisigen Temperaturen geballte Wärme entgegengesetzt. Im Mittelpunkt: Analoge Utensilien für den Rückzug in die heimischen vier Wände.
Das Möbelmessen-Karussell dreht seine nächste Runde. Nach Stationen in Köln und Paris ist das Designvolk in den hohen Norden nach Stockholm geströmt, um die Neuheiten der vorwiegend skandinavischen Hersteller unter die Lupe zu nehmen. Auch hier dreht sich alles um eine Warenwelt, die Wärme, Wohlfühlen und Atmosphäre in den Mittelpunkt rückt und sich dafür konsequent analoger Mittel und Technologien bedient.
Die Dinge schwelgen nicht in Maßlosigkeit und überbordendem Tamtam. Sie verbinden ein Bewusstsein für handwerkliche Qualität mit einem wachen Blick auf den Gebrauch – ganz so wie es die skandinavische Designtradition verlangt. „Vor ein paar Jahren noch war es normal, riesige Sofalandschaften zu entwerfen. Doch heute fühlt sich das nicht mehr richtig an“, erklärt die schwedische Designerin Monica Förster. „Selbst wer Geld hat, muss mit weniger Wohnraum leben. Wir Designer müssen darauf reagieren und uns verstärkt auf kleinere und dennoch ausgeklügelte Möbel konzentrieren.“
Verbinden statt Isolieren
Für Swedese präsentiert sie den Sessel Guest, der sich aufgrund seiner kompakten Dimensionen überall einfügt und mit einer erhöhten Sitzposition nicht nur zum Entspannen, sondern ebenso zur Möblierung des Esstisches benutzt werden kann. Ein interessantes Detail bilden die schlanken Armlehnen, die fast auf einer Ebene mit der runden Sitzfläche abschließen. Sie vergrößern das Spektrum möglicher Sitzpositionen und lassen für einen kurzen Moment auch zwei Personen auf diesem Möbelstück Platz nehmen, das verbinden statt isolieren möchte. Flexibilität steht auch beim Beistelltisch Big Sur an vorderster Stelle, den Simon Klenell und Kristoffer Sundin für Fogia entworfen haben. Indem die Tischoberfläche auf die klassische Höhe von Sitzmöbeln angehoben wurde, kann der Couchtisch auch zum Arbeiten mit dem Laptop oder zum legeren Dinner verwendet werden.
Einem im Design bislang eher stiefmütterlich behandelten Thema hat sich der schwedische Architekt Thomas Sandell angenommen. Der Armlehnen-Stuhl Mino von Swedese ist speziell fürs altersgerechte Wohnen entwickelt worden, ohne diesen Umstand gleich auf Anhieb in der Formensprache erkennbar zu machen. Um das Aufstehen zu erleichtern, ist die Sitzfläche deutlich höher angeordnet. An der Rückseite befinden sich zudem zwei Griffe aus gebogenem Schichtholz, mit denen Pfleger den Stuhl bei Bedarf leicht anheben und somit zusätzliche Hilfestellung geben können. „Ich wollte einen Stuhl entwerfen, den ich auch in meinem eigenen Zuhause verwenden würde“, beschreibt der 57-Jährige seinen generationenübergreifenden Gestaltungsansatz.
Schlanke Konturen
Auffällig ist in diesem Jahr die Tendenz zum Filigranen. Das Sofa Tailor von Menu (Design: Rui Alves), der Beistelltisch Pastille von Fogia (Design: TAF Arkitekter), der Barhocker Barbry von Fredericia (Design: Aurélien Barbry), der Esstisch TS von Gubi (Design: GamFratesi), das Regal Zig Zag von Hem (Design: Studio deFORM) oder die Garderobe Hanger von Offecct (Design: Neri Hu): Sie alle werden von extrem schlanken, aber dennoch stabilen Metallfüßen ausbalanciert, die den Möbeln einen leichten, fast schwebenden Eindruck verleihen und ihre physische Präsenz minimieren. Nicht klotzen oder dominieren, sondern sich vorsichtig in eine Umgebung einfügen, lautet die Losung.
Sogkraft der Geschichte
Andere Entwürfe wie der Beistelltisch Plectra von Asplund lösen die Symmetrie zugunsten organischer, leicht unregelmäßiger Formen auf und weben unübersehbare Anklänge an die Nierentischära mit ein. Ganz in ihrem Element sind an dieser Stelle die Reeditionen: Hay lässt den Stuhl Resolut sowie die Bank- und Tischserie Pyramid wieder aufleben, die Friso Kramer und Wim Rietveld in den späten Fünfzigerjahren für den niederländischen Möbelhersteller Ahrend entworfen haben. Interessant ist hierbei nicht nur die projektbezogene Kollaboration beider Marken. Auch der sonst eher auf heutige Designer fokussierte Hersteller Hay kann der Sogkraft historischer Arbeiten nicht mehr widerstehen und rüstet sein Portfolio mit bislang noch unverbrauchten Klassikern auf.
Strukturierte Oberflächen
Die Gegenwart kommt dennoch nicht zu kurz: Einen zeitgenössischen Entwurf für Hay hat das niederländische Designerduo Scholten & Baijings mit dem Outdoor-Stuhl 13eighty in Stockholm vorgestellt. Die Sitzschale ist mit unzähligen Löchern durchsiebt, die den Kunststoff nicht gerade, sondern in leichter Schrägstellung durchbohren – und somit eine haptische Oberflächenstruktur mit Op-Art-Effekt erzeugen. Eine feine Reliefstruktur zeigen auch die Fronten und Seitenflächen des Sideboards Beam, das Sara Larsson für die Möbelmarke A2 gestaltet hat. Mit Field und Loop nimmt der schwedische Textilhersteller Kasthall betont dreidimensionale Tuft-Teppiche ins Programm: Sie massieren die Füße und überziehen den Boden mit raffinierten Schattenwürfen.
Analoger Eskapismus
Natürlich darf eine gewisse Portion Extravaganz nicht fehlen: Das Stockholmer Designertrio Claesson Koivisto Rune hat mit Soft Board für David Design einen Hocker mit Marmorsitzfläche ersonnen, die an den Außenkanten weich abgerundet ist und den Eindruck eines Stein gewordenen Kissens erzeugt. Der finnische Hersteller Nikari feiert sein 50-jähriges Bestehen in Stockholm mit der Leuchtenserie Storia von White Arkitekter, deren Füße mit übereinander gestapelten Kugeln und Kuben aus unterschiedlichen Hölzern an das Resultat eines gelungenes Kindergeburtstags erinnern. Gleich im Eingangsbereich des Messegeländes zeigt Jaime Hayon in seiner Rolle als Designer des Jahres einen Querschnitt seiner Arbeiten. „Der Zirkus ist ein Thema, das mich sehr interessiert und viele meiner Entwürfe beeinflusst hat“, erklärt der Spanier beim Rundgang durch die Schau, die Verspieltheit, Leichtigkeit und Phantasie zu einem lebendigen Mix zusammenbringt.
Ethanol und Eis
Um einen atmosphärischen Rahmen für ihre Entwürfe zu finden, bewegen sich immer mehr Firmen aus der Messe heraus. Hem und Gärsnäs präsentieren ihre Arbeiten in eleganten Wohnungen, wo die Wirkung und Alltagstauglichkeit der Neuheiten sogleich unter realen Bedingungen begutachtet werden kann. Artek hat die Spiegelkollektion 124° und die Kleiderhaken-Serie Kiila von Daniel Rybakken im Tanztheater MDT auf der Insel Skeppsholmen in der Stadtmitte präsentiert. Die Berliner Architektin Johanna Meyer-Grohbrügge hat dafür eine stilisierte Drehbühne mit drei unterschiedlichen Raumszenarien ersonnen.
Eine Insel weiter lädt Wästberg zur Präsentation der Kollektion Holocene, die Ethanollampen von David Chipperfield und Ilse Crawford sowie einen Kerzenhalter von Jasper Morrison umfasst. Als passender Ort dient ein opulent dekorierter Pavillon, der einst für den schwedischen König erbaut wurde, damit dieser dort zwei Dinge erledigen kann: Sich seine Schlittschuhe anziehen und nach dem Eislaufen eine Tasse heißer Schokolade trinken.
Eine atmosphärische Inszenierung hat ebenfalls Harri Koskinen gewählt, um in den Räumen des Einrichtungshauses Svenskt Tenn die Kollektion Shadow Play vorzustellen. Diese umfasst Tabletts mit sich überlagernden Farbkreisen sowie auffallend dekorative Leuchten, die eine symbiotische Beziehung mit einer beliebten Zimmerpflanze eingehen sollen: Fensterblättern. Der Sockel der Leuchte erinnert an einen Blumentopf, in den versteckte LEDs eingelassen sind. Das Licht wird hinauf in Richtung Decke geleitet und auf dem Weg dorthin von Reflektoren in Gestalt von stilisierten Blättern abgefangen. Gebogene Öffnungen lassen einen Teil des Lichtes durch die Reflektoren hindurchscheinen und entfachen somit spannende Licht- und Schattenspiele an der Decke sowie an den umliegenden Wänden.
Atmosphärische Mixtur
Dass sich selbst ein Purist wie Harri Koskinen von seiner dekorativen Seite zeigt, mag zunächst überraschen. Doch beim Wohnen wird derzeit ohnehin keine Entweder-Oder-Entscheidung verlangt. Puristische Dinge gehen mit retrogespülten Neuheiten und wiederbelebten Klassikern Hand in Hand. Eine immer wichtigere Rolle spielen die atmosphärischen I-Tüpfelchen, die mit Licht- und Schattenwürfen, dreidimensionalen Oberflächen sowie starken Farben und Mustern für eine sinnliche Aufwertung des Zuhauses sorgen – und damit den passenden Rückzugsort für eine derzeit doch recht turbulente Zeit definieren.
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