imm cologne 2017: Auf dem Puder-Fass
Wohin steuert das Wohnen? Die 68. Kölner Möbelmesse entführt in eine retrogetränkte Wohlfühlwolke.
Wohin steuert das Wohnen? Die 68. Kölner Möbelmesse imm cologne ist am Sonntag nach vier Fachbesucher- und drei Publikumstagen zu Ende gegangen. Das erste Messeschwergewicht des neuen Jahres schlägt vor allem leise Töne an. Die Botschaft: Alles bleibt, wie es ist. Und doch kommt alles anders.
Die Designwelt ist ein großer Zirkus. An Selbstdarstellern und großen Egos mangelt es nicht. Doch diesmal müssen die Stars in der Manege zuhause bleiben. Die 68. Kölner Möbelmesse imm cologne schlägt vor allem leise Töne an. Anstelle selbstverliebter Einzelstücke werden sorgsam ans Ensemble angepasste Teamplayer vorgestellt. Bloß nicht hervorstechen oder gar anecken, lautet die Losung.
Die Möbelhersteller inszenieren eine leicht verdauliche Wohlfühlzone, die für Jung und Alt gleichermaßen funktionieren soll. Damit das gelingt, wird eine Zeit ohne Zeit propagiert. Mid-Century-Anklänge, Memphis-Rauschen und neoskandinavische Beruhigungspillen werden zusammen in einen Mixer geworfen und anschließend mit einer Glasur aus pudrigen Tönen überzogen, die vor allem eines soll: gute Laune verbreiten.
Neues Selbstbewusstsein
Dass die Strategie aufgeht, zeigt der Rundgang durch die Messehallen im Stadtteil Deutz. Viele Aussteller haben die Umsatzeinbußen der letzten acht Jahre wieder ausgeglichen. Andere vermelden sogar die erfolgreichsten Bilanzen ihrer Firmengeschichte. Auch die wachsende Zahl an jungen Möbelherstellern, die ihre Kollektionen von Jahr zu Jahr rasant ausbauen, ist ein sicherer Indikator dafür, dass die Branche zurück auf beide Beine gefunden hat. Die gute Stimmung ist auch bei den 150.000 Besuchern spürbar. Mit diesem Wert wird das Ergebnis von 2015 übertroffen, als die Möbelschau am Rhein zuletzt von der Küchenmesse LivingKitchen begleitet wurde.
Entspannung statt Spannung
Bei so viel Optimismus gerät schnell aus dem Blick, dass vielerorts nur mit Wasser gekocht wird. Die vorgestellten Produkte dieser Messe wirken wie Antipoden der Beschleunigung. Das Neue kommt in vertrautem Gewand daher und öffnet mit sorgsam eingeflochtenen Erinnerungsankern einen Fallschirm, der einer unsanften Landung in stilistischen Untiefen vorzubeugen vermag. Wer nichts riskiert, kann schließlich auch nichts falsch machen. Damit bleibt zwar der Überraschungsfaktor auf der Strecke. Doch genau darum geht es hier auch gar nicht. Entspannung statt Spannung, lautet die Zielvorgabe, die mit exponierten Materialien, unauffälligen Formen und atmosphärischen Farben erreicht werden soll. Das Experiment hat ausgedient.
Akzentuierende Kuben
In diesem Zusammenhang richtet sich der Fokus auf eine Typologie, die bislang eher im Hintergrund verharrte: Aufbewahrungsmöbel. Diese können mit farblich abgesetzten Füßen Akzente setzen. Wer es mutiger mag, wählt sogleich sämtliche Fronten in charaktervollen Tönen wie bei Philipp Mainzers Kubensystem Jorel für Interlübke. Der schon seit Jahren in den Schubladen schlummernde Entwurf ist nun zum Leben erweckt worden und markiert für den Frankfurter Gestalter neues Terrain fernab des eigenen Möbellabels e15. Nach oben überstehende Fronten machen Griffe überflüssig und bewirken eine konsequente Reduktion der Formensprache. Langeweile ist mit Fronten aus lackiertem Glas, Edelstahl oder silbern und golden eloxiertem Aluminium indes kaum zu befürchten.
Sinnlichkeit und Rationalität
Der Clou bei den neuen Aufbewahrungsmöbeln besteht in der Verbindung unterschiedlicher Töne, Oberflächen und Materialien zu einem lebendigen Patchwork, das selbstbewusst die Blicke auf sich zieht. Wie lässig diese Übung gelingt, zeigt Cassina mit einer farblichen Auffrischung von Le Corbusiers Kastenmöbel Casiers Standard, das sich auf vielfältige Weise kombinieren und in unterschiedlichen Situationen im Haushalt einsetzen lässt. Auch der Münchner Hersteller Piure setzt einen Schlussstrich unter die Monotonie, indem bei Werner Aisslingers Möbelsystem Mesh transparent-getönte Gläser mit opaken Farbfronten zusammentreffen und Sinnlichkeit mit Rationalität in Einklang bringen.
Bühnen der Materialität
Einen Hauch von Ewigkeit versprühen Möbel aus Naturstein. „Wie kaum ein anderes Material steht Marmor für Kraft und Beständigkeit“, heißt es am Stand von Walter Knoll, wo Eoos Design den Beistelltisch Oki präsentieren. Die schwergewichtigen Platten scheinen dank filigraner Metallgestelle über dem Boden zu schweben und bringen ihre individuelle Maserung umso eindrucksvoller zur Geltung. In einer weiteren Ausführung kommt gebürstetes Messing zum Einsatz, das sozusagen bereits mit einer eingebauten Patina aufwartet. Auch hier wirkt die ruhige Formensprache wie ein Verstärker der Materialität. Indem das Neue künstlich gealtert wird oder gleich mit Jahrmillionen alten Naturprozessen aufwartet, relativiert sich das Hier und Jetzt. Wer wird sich schon von Trump und Brexit aus der Ruhe bringen lassen, wenn die häusliche Umgebung bereits fürs nächste Jahrtausend gewappnet ist?
Verspieltes Holz
Holz spielt auf dieser Messe ebenso eine wichtige Rolle, wenngleich es alles andere als holzfällerisch-rustikal daherkommt. Fein und raffiniert wirkt das Stuhl- und Tisch-Ensemble Elle von MS&Wood aus Bosnien und Herzegowina. Die von Nataša Perković entworfenen Möbel werden aus massivem Eschen-, Walnuss- oder Eichenholz gefertigt und erhalten ihre fließenden Konturen durch das Zusammenspiel von alten Handwerkstechniken und dem Einsatz fünfachsiger CNC-Fräsmaschinen. An der Grenze zum Kitsch wandelt der Möbelhersteller Riva1920 mit dem Tisch Earth. Über einem von Renzo und Matteo Piano entworfenem Eisengestell ruht eine Tischplatte aus Epoxidharz mit eingeschlosseenn Kauri-Stücken. Das neuseeländische Holz war bis zu 50.000 Jahre lang im Moor eingeschlossen und erlebt nun eine Wiederauferstehung als Möbelartefakt, das die Gegenwart zum flüchtigen Moment auf einer langen Zeitschiene erklärt.
Fließende Konturen
Historische Referenzen dürfen auch im Polsterbereich nicht fehlen, wo Sessel immer weniger als skulpturale Einzelstücke in Szene gesetzt werden. Stattdessen ist eine stärkere Verknüpfung zum Systemgedanken spürbar, indem die Einzelsitze mit passenden Sofas kombiniert werden. Visuelles und körperliches Wohlbefinden verspricht das Polstersystem Amédée von Marie Christine Dorner für Ligne Roset, das mit seiner vertikalen Steppung sowohl an Sportwagensitze als auch an jene Möbel denken lässt, die Pierre Paulin einst für die Möblierung des Élysée-Palastes entworfen hatte. Ikonenhaftes und Dynamisches gehen Hand in Hand.
Geschmeidige Drehungen
Einen Ausflug in die Comic-Welt unternimmt die Wiener Polstermanufaktur Wittmann mit der einer Kollektion des spanischen Designers Jaime Hayon. Knubbelige Sessel treffen auf Betten mit beweglichen Segelohren, die die Schlafenden wie ein Kokon umhüllen. Als Reminiszenz an Josef Hoffmann wird das Sofa Vuelta (Spanisch für Wende, Rückkehr) verstanden, bei dem die Rückenlehne in zwei halbkreisförmigen Drehungen geschmeidig in die Armlehnen übergeht und ebenfalls für einen beschützenden Auftritt sorgt. Wie ein Lehrstück für die Gegenwart wirkt der von Mario Bellini in den sechziger Jahren entworfene Sessel 932, der nun von Cassina neu aufgelegt wurde. Ein breites Stoff- oder Lederband umschlingt vier gepolsterte Kuben, die als Sitzfläche, Armlehnen und Rücken dienen und ohne zusätzliches Metall- oder Holzgestell auskommen.
Sofa statt Bank
Auf dem Vormarsch sind Polstermöbel auch an anderer Stelle: Als Bestuhlung für den Essbereich, wo sogenannte Dining Sofas zum gemütlichen Ausklang des Essens einladen und die Härte klassischer Sitzbänke ad acta legen. Ein schönes Modell hat der deutsche Designer Mathias Seiler mit Joline für Girsberger entworfen, bei dem die Rückenpolster von einem Rundbalken aus Eiche oder Buche in Position gehalten werden. Eine Rückbesinnung zum Funktionsmöbel ist am Stand von De Sede zu beobachten. Das von Thomas Kirn entworfene Sofa DS-490 soll als „Cockpit für einen stilvollen Multimedia-Genuss oder als Wellness-Insel zum Entspannen“ dienen. Zwei Sitzelemente ruhen auf schlanken Plattformen und können um 90 Grad gedreht werden, sodass eine chaiselongueartige Sitztiefe entsteht.
Pudriger Schleier
Was bleibt von dieser Messe? Das Wohnen hat sich des Zeitlichen entledigt und inszeniert eine retrogetränkte Wohlfühlwolke. Hier wird kein Pulver gezündet, sondern reichlich Puder verteilt: als vernebelnder Weichzeichner, der alles nett und gefällig macht. Im selben Atemzug verschwimmen die Dinge zu einer indifferenten, austauschbaren Masse. Es spricht Bände, dass Mario Bellinis wiederaufgelegter Sixties-Sessel fast allen Neuheiten die Show stiehlt und ganz gewiss nicht in den Verdacht eines Oldies gerät. Weil sich Designer und Hersteller ständig gegenseitig beobachten und alle das Gleiche versuchen, fehlt die Perspektive nach vorne. Das ist schade, weil das Wohnen weit mehr als nur eine Pflichtübung sein sollte. Den vielen neuen Namen, die derzeit eine Chance erhalten, steht eine weite Manege offen. Sie müssen nur den Mut fassen, sie zu bespielen.
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