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Transparenz, die sitzt

Evolution einer Typologie: Wie transparente Sitzmöbel das Wohnen verändert haben.

von Norman Kietzmann, 31.03.2015

Transparente Sitzmöbel sind heute allgegenwärtig. Dabei reicht ihre Entwicklung nur wenige Dekaden zurück. Auf dem Weg zu visueller Leichtigkeit wurde nicht nur das Wohnen neu erfunden. Auch neue Technologien haben in durchsichtigen Stühlen und Sesseln eine schlüssige Gestalt gefunden.

Auch wenn ihr Name etwas anderes suggeriert: Möbel waren früher alles andere als mobil. Gesessen wurde in Europa auf langen, massiven Holz- oder Steinbänken, die direkt an den Wänden lehnten und fest mit ihnen verbunden waren. Architektur und Möbel formten eine untrennbare Einheit. Eine Ausnahme bildeten einfache Arbeitsschemel und herrschaftliche Throne. Wer saß, besaß Macht. Und die weckte Begehrlichkeiten. Der Sprung zum Solitär erfolgte im späten Mittelalter, als die ersten Stühle die Wohngemäuer bevölkerten. Seither verbindet Generationen von Handwerkern und Gestaltern ein gemeinsames Projekt: Sie wollen die Utensilien des Alltags leichter machen.

Schinkels Leichtigkeit
Lange bevor Glas und Kunststoff den Weg in den Möbelbau gefunden haben, wurde Transparenz auf andere Weise erprobt. Anstatt die Sitzflächen und Rückenlehnen von Stühlen aus massiven Flächen zu formen, wurden sie in filigrane Strukturen aufgelöst. Ein treffendes Beispiel ist der Gartenstuhl (1820–1825) von Friedrich Schinkel, der aus Gusseisen in hohen Stückzahlen hergestellt wurde. Das Möbel setzt sich aus zwei identischen Seitenteilen zusammen, die jeweils in einem Stück gegossen und mit schlanken Querstreben verbunden wurden. Dieses Konstruktionsprinzip nimmt nicht nur spätere Klassiker wie Mies van der Rohes Barcelona Sessel (1929) und den Aluminium Chair (1958) von Charles und Ray Eames vorweg. Indem sämtliche Flächen als filigranes Stabwerk ausgeführt wurden, erhielt das Möbel eine bis dato ungesehene Leichtigkeit. 

Grafische Qualitäten
Auch andere Gestalter haben dem Wuchtigen den Kampf angesagt. Als Michael Thonet mit seinem Kaffeehausstuhl 214 (1859) das Bugholzverfahren einführte, vermochte er nicht nur die Rückenlehne auf zwei schlanke, hölzerne Bögen zu reduzieren. Durch die Übersetzung der Sitzfläche in ein feingliedriges Flechtwerk, konnten die Blicke plötzlich durch das Möbel hindurch gleiten. Ein Vorreiter in puncto Transparenz war der Schotte Rennie Mackintosh mit seinem Hill House Chair (1902). Das feine Gitterwerk des überhöhten Rückens erzeugte ein grafisches Wechselspiel aus Geraden und Quadraten. Gleichzeitig konnte die Stärke der tragenden Elemente auf ein Minimum reduziert werden, wodurch das Möbel zu einem Lehrstück in Sachen Materialbeherrschung wurde. 

Filigranes Gitterwerk
Eine modernistische Antwort auf Schinkels Gartenstuhl gab der französische Gestalter René Herbst mit seiner Chaise Sandows (1928). Für die Sitzfläche und Rückenlehne kamen elastische Gummigurte zum Einsatz, die in einen Rahmen aus Stahlrohr eingespannt wurden und sich dem Körper anzupassen vermochten. Auch die Sitzschale des Wire Chair (1951) von Charles und Ray Eames folgte den menschlichen Konturen, während ihre Erscheinung in ein feines Gitterwerk aus Stahl aufgelöst wurde. Der Entwurf ist maßgeblich vom Bildhauer Harry Bertoia beeinflusst worden, der zur Entstehungszeit des Stücks im Büro der Eames gearbeitet hatte.

Später lieferte er sich mit dem Designerpaar einen Rechtsstreit über die Urheberschaft – und musste dabei den Kürzeren ziehen. Dennoch ließ sich Bertoia nicht beirren und stellte wenige Monate später einen weiteren aus dünnem Stahlgitter gefertigten Klassiker vor: seinen leichten Diamond Chair (1952), der seinen Besitzer regelrecht über dem Boden schweben ließ. Eine Steigerung dieses Konstruktionsverfahrens wurde 1992 von Tom Dixon erzielt, dessen Pylon Chair aus einem Geflecht extrem dünner Stahldrähte die Gesetze der Statik zu überwinden schien.

Risse im Sonnenlicht
Leichtigkeit war auch das zentrale Thema in der Arbeit von Jean Prouvé, der metallenen Strukturen durch perforierte Löcher eine Verschlankungskur verpasste. Ein beinahe in Vergessenheit geratener Entwurf ist sein Gartensessel aus dem Jahr 1936, der in Zusammenarbeit mit Jacques André entstand. Das Möbel kombinierte einen Rahmen aus perforiertem Stahlblech mit einer geschwungenen Sitzschale und Armlehnen aus transparentem Plexiglas. Es war der erste Einsatz dieses Materials im Möbelbereich. Doch wie viele Pioniere waren Prouvé und André ihrer Zeit ein Stück zu weit voraus. Weil sich das Acrylglas im Sonnenlicht spannte und feine Risse bildete, fand sich kein Hersteller für die Serienproduktion. 

Vollständige Transparenz
Der Einsatz von durchsichtigem Kunststoff musste noch weitere drei Dekaden warten – und wurde maßgeblich von der Welt des Kinos beeinflusst. Als wegweisend erwiesen sich die Requisiten, die Piero Poletto 1965 für den Science-Fiction-Film La decima vittima (Das zehnte Opfer) von Elio Petri entwarf. In mehreren Szenen nimmt Hauptdarsteller Marcello Mastroianni auf aufblasbaren Kissen aus transparentem PVC Platz. Der Entwurf wird zum Ideengeber für den von Jonathan de Pas, Donato D‘Urbino, Paolo Lomazzi und Carla Scolari entworfenen Blow Chair (1967). Das aufblasbare Möbel wird bis heute von Zanotta produziert und gilt nicht nur als erstes volltransparentes Möbel. Er vermeidet ebenso eine tragende Struktur – und bringt den Benutzer mit seinem luftgefüllten Innenleben tatsächlich zum Schweben.

Evolution von Glas
Auch der japanische Designer Shiro Kuramata wandelte auf den Spuren des Films. Beeindruckt von Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968) entwickelte er 1976 seinen Glass Chair, mit dem die Idee des schwerelosen Sitzens in eine feste und dauerhafte Struktur aus Glas übersetzt wird. Die Umsetzung des Entwurfs nahm mehrere Jahre in Anspruch und wurde erst durch einen neuartigen Klebstoff ermöglicht. Während allerdings Kuramatas Entwurf aufgrund seiner hohen Kosten in der Kleinserie verharrte, entwarf die Mailänder Architektin Cini Boeri mit ihrem Glassessel Ghost (1987) ein kommerziell höchst erfolgreiches Sequel. Der Clou ihres Entwurfs basiert auf einem thermischen Verformungsverfahren für Glas. Damit konnte der Sessel mitsamt Sitzfläche, Rückenlehne und Armlehnen aus einer einzigen Glasfläche heraus gebogen werden. Aufgrund der fließenden Konturen und des Verzichts auf geklebte Übergänge scheint sich das Möbel vor den Augen des Betrachters optisch aufzulösen.
Schwebender Kokon
Der Siegeszug von transparenten Kunststoffmöbeln ließ derweil noch auf sich warten. Zwar hatte Eero Arnio mit seinem Bubble Chair bereits 1968 ein Möbel aus einer durchsichtigen Acrylglas-Halbkugel gefertigt, die an einer Kette von der Decke herabhing. Da andere Formen als Kugeln oder Halbkugeln zu jener Zeit nicht produzierbar waren, erschöpften sie die gestalterischen Möglichkeiten jedoch schnell. Frischen Wind brachte erst eine technische Weiterentwicklung in den späten neunziger Jahren.

Später Durchbruch
Mit dem von Philippe Starck entworfenen Stuhl La Marie präsentierte Kartell 1999 das erste, durchgehend transparente Kunststoffmöbel. Mit einem Gewicht von 3,5 Kilogramm kam es deutlich leichtfüßiger daher als der zehnmal so schwere Ghost von Cini Boeri. Während eine breite Auswahl an Farben den gestalterischen Spielraum zusätzlich erhöhte, konnten auch die Dimensionen wachsen. Ebenfalls aus der Feder von Starck stammt das Sofa Uncle Jack, mit dem Kartell im Jahr 2013 ein 1,80 Meter breites Kunststoffmöbel aus einem Stück präsentierte. Die dafür notwendige Maschine wurde von einer kleinen Manufaktur im Mailänder Umland von Hand gefertigt und ist die bislang einzige ihrer Art. Doch sicherlich werden in puncto Größe bald noch andere Entwürfe – und technische Nachahmer – folgen. 

Materielle Allianzen
Transparenz ist heute keine Entweder-oder-Entscheidung. Viele Designer setzen auf materielle Schulterschlüsse wie die Brüder Bouroullec mit ihrer Möbelfamilie Diapositive (2014), die eine tragende Struktur aus Glas mit hölzernen Elementen verbindet. Ähnlich verfährt der New Yorker Designer Ron Gilad mit seiner Möbelserie Sublimazione (2014), bei der gläserne Hocker und Bänke mit eingelassenen Holzfurnieren aufwarten – und dem Naturmaterial extreme Filigranität verleihen. 

Dass hierbei auch ein Funken Ironie nicht fehlen darf, zeigt Jasper Morrison mit seinem Stuhl Trattoria (2009). Die Gestalt des Möbels zitiert die klassischen italienischen Restaurantstühle – nur mit dem Unterschied, dass die Sitzfläche und Rückenlehne aus farbig-transparentem Polykarbonat gefertigt wurden anstelle von geflochtenem Rohr. Indem die Kunststoffoberfläche die Struktur des Geflechts aufgreift, entsteht eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Transparenz wird nicht mehr als Ausblick in die Zukunft gefeiert. Sie ist im Hier und Jetzt angekommen.

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