Farbliche Gratwanderung
Hotel Aeon von noa* in Südtirol
Auf den ersten Blick erinnert das Hotel Aeon, das auf der freien Fläche des Oberbozener Hochplateaus steht, an einen Stadel, einen traditionellen Heuschober. Beim näheren Hinsehen zeigt sich, dass das Architekturbüro noa* bei diesem Bau die Südtiroler Tradition asymmetrisch ins Zeitgenössische verschoben hat – und den Gast in einen surreal wirkenden Farbkosmos zwischen Nachtblau und Cremeweiß versetzt.
Oberbozen trägt die Aussicht schon im Namen: Mit der Seilbahn gelangt man vom norditalienischen Bozen in die knapp 1.000 Meter höher gelegene Ortschaft. Die viereinhalb Kilometer lange Strecke ist eine Reise von der Stadt aufs Land, vom Tal auf den Berg und von der urbanen Hektik zur Ruhe. Es liegt also nahe, dass ein jüngst dort eröffnetes Hotel namens Aeon die Begegnung zweier Welten thematisiert. Das Aeon steht mitten auf der grünen Wiese, auf Land, das zum 550 Jahre alten Lobishof und der Familie Ramoser gehört. Das Ensemble des Bestandes setzt sich zusammen aus einem alten Gasthof, dem Wohnhaus und einem klassischen Südtiroler Stadel. Das neue Projekt wurde von der jungen Ramoser-Generation initiiert und will dem aktuellen Verständnis von Gastlichkeit einen zukunftsweisenden Ort geben. Mit Blick auf die eigene Familientradition soll es aber auch den Bogen zum historischen Hof und damit zur lokalen Geschichte schlagen.
Tunnel zur Sauna
Zunächst wirken die neuen Gebäude wie zwei Solitäre, doch auf den zweiten Blick erweist sich eine Rasenwelle als Tarnung eines unterirdischen Verbindungskorridors. So können die Gäste direkt aus dem privaten Bau mit seinen fünfzehn Suiten in das zweite Haus gelangen, das vor allem kollektive Funktionsbereiche wie Bar, Pool, Wellness und Empfang beherbergt. Die äußere Silhouette beider Gebäude und die Wahl des Baumaterials Holz verweisen auf die traditionellen Heuschober der Südtiroler Berge, die Architektursprache ist einer modernen Geometrie verpflichtet. Allein die Lage ist ein seltenes Privileg: Weil die Häuser mitten auf den familieneigenen Feldern erbaut wurden, ist die Aussicht auf die Meraner Alpen und die Dolomiten unverbaubar.
Verschobener Schober
Durch den exponierten Standort fühlten sich die mit der Planung beauftragten Architekt*innen von noa* (network of architecture) zu einer sensiblen Antwort auf Bestand und Umgebung verpflichtet. Das Satteldach ist ein Zitat lokaler Architektursprache, die regelmäßige, orthogonale Unterteilung der Frontfassade erinnert an die großen Mehrgenerationenbauernhöfe der Gegend. Die Seiten hingegen wirken – wie eine Scheune – aus der Distanz geschlossen. Die ästhetische Harmonie mit der lokalen Baukultur ist jedoch gut dosiert. Wer sich nähert, dem offenbaren sich moderne, raffiniert eingebundene Details. Die Seiten sind tatsächlich mit Lamellen verkleidet, die die Geschosse verschleiern und Fenster verbergen. Und die Trennwände zwischen den Balkonen verzweigen sich in einer asymmetrischen Zickzacklinie, die markant und dynamisch wirkt.
Wie Nacht und Tag
Ein weiterer Bruch zeigt sich beim Betreten der Gebäude. Die gesamte Innenarchitektur wurde konsequent in Dunkelblau und Beige gestaltet. Die zwei homogenen Farbwelten werden von einer scharfen Trennlinie durchschnitten. Mal läuft sie horizontal, mal vertikal, mal fällt sie wie ein Schatten von einer Flurhälfte in die andere. Dabei führt sie durch Leuchten, Teppiche und Vorhänge oder durch Betten und Sofas und macht auch vor Sauna und Wellness-Lounge nicht Halt. Die Konsequenz dieser anamorphen Raumgestaltung wirkt beinahe surreal. Der dreidimensionale Raum wird aus bestimmten Blickwinkeln flächig wahrgenommen, einen Schritt weiter gleitet er in die Asymmetrie. Das Blau wirkt mystisch, der Elfenbeinton sanft und einladend. Dabei wurde Beige bei der Farbaufteilung im Verhältnis zum Blau doppelt gewichtet. Ein Drittel setzt somit auf die dunkle Nuance, die anderen zwei Drittel strahlen warme Helligkeit aus.
In Gegensätzen vereint
Haptische Spannung entsteht durch die Texturen der Oberflächen. Hochflorige Textilien, opake Vorhänge und gläserne Trennwände sorgen dafür, dass die homogene Farbgestaltung niemals langweilig wirkt. Ganz im Gegenteil: Für die Gäste in den als Open Space gestalteten Hotelzimmern gibt es viel zu entdecken. Die Stoffe, Hölzer und lackierten Metallstrukturen spielen auf faszinierende Weise gegeneinander und miteinander. Durch das außergewöhnliche Interiorkonzept bietet das Aeon seinen Gästen zwei gegensätzliche und dennoch harmonisierende Welten an einem Ort: die malerische Landschaft der Südtiroler Bergwelt – und eine einzigartige räumliche Erfahrung mit Alice im Wunderland-Moment.
FOTOGRAFIE Alex Filz
Alex Filz