Vertikales Dorf
Spektakuläres Gästehaus von Neri&Hu in Shenzhen
Das Architekturbüro Neri&Hu hat ein unauffälliges Wohnhaus zu einer urbanen Pension mit hohem ästhetischem Anspruch umgestaltet. Mit sozialen Interaktionszonen, privaten Wohnbereichen und einer parasitär besetzten Dachfläche funktioniert es als Dorf im Dorf – und das mitten in der hypermodernen Hightech-Planstadt Shenzhen.
Die landseitige Region rund um Hongkong und Macau ist eine Megalopolis, in der Dörfer, Städte und Metropolen zu einer gigantischen Stadtlandschaft zusammengewachsen sind. Zu diesem Ballungsgebiet gehört auch die Stadt Shenzhen, die allein knapp 17,5 Millionen Einwohner*innen zählt und durch ihre Elektronikindustrie ein wichtiges Wirtschaftszentrums Chinas ist. Shenzhen steht für Hightech und Hochhäuser – hat aber im Zuge des rasanten Wachstums einige traditionelle Ortschaften „verschluckt“. Zwischen glänzenden Türmen liegen kleine Siedlungsstrukturen, die von den Chines*innen „Chengzhongcun“ genannt werden – urbane Dörfer. Nantou City ist eines von ihnen: Es liegt mitten in Shenzhen und verfügt über ein buntes Milieu aus Wohnhäusern, engen Gassen und offenen Plätzen. Ganz modern wirkt ein seine Umgebung um ein paar Meter überragender Block, auf dessen Dach zwei asymmetrische und tiefschwarz abstrahierte Hausstrukturen stehen.
Hoch hinaus
Bis vor Kurzem war das Gebäude noch eines wie die anderen. Ein schlichtes Wohnhaus, dessen Fassade vor allem von vergitterten Fenstern und Klimaanlagenkästen dominiert wurde. Dann trat das in Shanghai ansässige Architekturbüro Neri&Hu auf den Plan und begann mit dem Entwurf einer Transformation. Weil die neue Nutzung sich von privaten Mieter*innen verabschiedete und den Einzug eines Gästehauses vorsah, entschlossen sich die Gestalter*innen zu einer optimierten Integration des Hauses in sein Umfeld. Der historische Kontext sollte dabei thematisiert werden, allerdings ohne sich in oberflächlichen Zitaten zu verlieren. Statt also nur Materialien und Stile aus der Vergangenheit zu imitieren, ging es den Architekt*innen um eine Hommage ans Dorf – übertragen von der Straßenebene auf die vertikal gestapelten Etagen des Hauses.
Dörfliche Dynamik
Wer durch das Viertel Nantou City läuft, erlebt einen starken Kontrast zur hyperfunktionalen Wohn- und Geschäftswelt des nur ein paar hundert Meter entfernten Shenzhen, das in den letzten drei Jahrzehnten geplant aus dem Boden gewachsen ist. Das eingemeindete Dorf ist in Bewegung. Dort spielen Kinder auf den Straßen, nomadische Händler*innen ziehen durch die Gassen und Besucher*innen können im engmaschigen Wegenetz durchaus noch verloren gehen. Alltägliche Szenen – wie Federballspiele, tobende Kindergruppen oder Nachbarschaftsschwätzchen – machen den besonderen Flair der Gegend aus. Die Planer*innen von Neri&Hu wollten das Haus für die urbane Lebendigkeit öffnen. Das Erdgeschoss, in dem ein Café untergebracht wurde, holt die Szenerie über große Fenster ins Innere. Gleichzeitig erfolgt der Zutritt über mehrere Türen, die sowohl frontal am weitläufigen Stadtplatz liegen als auch an den kleinen Gassen. „Sie wurden so platziert, dass sie sich in das Netz der verschlungenen Wege einfügen, um die für Nantou typische, organische Zirkulation zu unterstützen“, erklären Rossana Hu und Lyndon Neri.
Hommage an die Geschichte
Die Vergangenheit des Gebäudes hingegen wurde im wortwörtlichen Sinne freigelegt. Die Architekt*innen entkernten den ehemaligen Wohnbau bis auf sein Betonskelett und öffneten anschließend einzelne Bereiche über gezielte Einschnitte. Ein innenliegendes Treppenaus, das zuvor alle neun Stockwerke verbunden hatte, wurde entfernt und der Schacht zu einem Innenhof erweitert. Indem die Fassadenseite offen angelegt ist, kann die Luft zirkulieren und das Tageslicht einfallen. Die Erschließung erfolgt jetzt für die Gäste über eine neue Treppe aus Metall, die sich in den Schacht klemmt. Die Zimmertüren aus massivem Stahl sind sogenannte Klöntüren: Sie können halb geöffnet werden. Statt zum Klönen – dem Schwätzchen – zu dienen, kann die offene obere Hälfte auch die Funktion eines Fensters übernehmen und Frischluft einlassen.
Aussichten und Einsichten
Die Zimmer sind geprägt vom brutalistischen Bestand. Der rohe Beton wurde, wie überall im Haus, nach dem Rückbau nackt belassen. Die einzelnen Bereiche, wie Wohnzimmer, Bad und Schlafraum, sind durch Gitterstrukturen und opake Scheiben voneinander getrennt. Dadurch entsteht im Innern ein gemütliches Halbdunkel, in das minimalistische Holz- und Polstermöbel eingezogen sind. Sie erzeugen einen asketischen Raumcharakter und eine intime Atmosphäre, die durch die Verschattung der Fenster verstärkt wird. Denn vor die Fassade hat das Team von Neri&Hu eine schirmartige Lochverkleidung gesetzt, die direkte Einblicke in die Zimmer verhindert. Der Bauch des Gebäudes ist dadurch abgeschirmt, während Erd- und Dachgeschoss auf volle Durchsicht und Aussicht setzen. „Wie das geschäftige Treiben in den Gassen hat auch die Dachlandschaft des urbanen Nantou ein Eigenleben, mit behelfsmäßigen Gemüsefarmen, die entlang der zerklüfteten Skyline auftauchen“, erzählen die Architekt*innen. Für das Dach des Gästehauses haben sie sich deshalb etwas Besonderes ausgedacht: Auf dem Restaurant, das den Block als gläsernes Aquarium krönt, sitzen auf einem auskragenden und fast schwebend wirkenden Dach noch zwei schwarze Volumen mit Häusersilhouetten. Sie zitieren das Temporäre und Parasitäre, das so typisch für rasant wachsende Stadträume ist – und damit typisch für Nantou.
FOTOGRAFIE Hao Chen
Hao Chen