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Avantgardist, Kritiker, Angeklagter 

150 Jahre Adolf Loos

Am 10. Dezember wäre Adolf Loos 150 Jahre alt geworden. Der Wegbereiter der Moderne ließ sich zeitlebens nie in Schubladen stecken. Anecken gehörte für den umtriebigen Wiener zum guten Ton. Sein Werk ist heute aktueller denn je. Doch viele Institutionen tun sich mit seiner Würdigung schwer.

von Norman Kietzmann, 09.12.2020

An der Architektur kann im Stadtbild niemand vorbei. Deswegen darf man sie zu Recht kritisieren. Als sich Adolf Loos in den späten Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts in Wien niederlässt, wird er zum erbitterten Gegner des Ringstraßen-Stils. Er beginnt zu schreiben und geht scharf mit seiner gebauten Umwelt ins Gericht: mit den Anhängern des Historismus, aber ebenso mit denen des Jugendstils. Loos lehnte beides ab: den überbordenden Stilmix vergangener Zeiten wie die Suche nach einem neuen, zeitgenössischen Dekor.

Zwischen den Stühlen
Seine Kritik kulminierte in dem 1909 erschienenen Essay „Ornament und Verbrechen“. Der Text öffnete seinen Weg vom scharfsinnigen Schreiber und Innenarchitekten, der unter anderem in Wien das Café Museum, die stilprägende American Bar oder zahlreiche Privatwohnungen gestaltet hat, in Richtung Architektur. Das Haus am Michaelerplatz (1910/1911) löste mit seiner glatt verputzten Fassade einen Skandal aus. Doch zugleich fühlte sich Loos auch missverstanden. Denn er wollte nicht mit allem brechen, keine Tabula rasa machen, wie viele Modernisten nach ihm. Das Neue erwuchs für ihn aus dem Alten heraus und wurde nicht autark geplant.

Loos stand damit zwischen den Stühlen: Den Traditionalisten war er zu modern und den Modernisten stets zu traditionell. Der Sohn eines Steinmetzes, der 1930 in Brünn geboren wurde und in Wien und Dresden studierte, ohne einen Abschluss zu machen, versah viele seiner Bauten mit glatt verputzten Fassaden. Doch im Inneren warteten sie mit Natursteinen, edlen Hölzern, sinnlichen Stoffen und Texturen auf. Loos schätzte die Wirkung hochwertiger Materialien. Sie kamen pur und klar zum Einsatz. Nur so zeigten sie ihre innere Struktur, ihre natürliche Ornamentik. In diesem Sinne war Loos nicht gegen das Dekor. Er war nur gegen das künstlich Erschaffene.

Komplexe Raumabfolgen
Fast alle Privathäuser von Loos werden bis heute bewohnt und sind in einem erstaunlich guten Zustand. Das Wiener Museum für Angewandte Kunst widmet diesen Bauten seit Anfang Dezember eine Ausstellung, in der Modelle vom Haus des Dadaisten Tristan Tzara (1925/26) in Wien, der Sängerin und Tänzerin Josephine Baker in Paris (1927, nicht realisiert), des Bauunternehmers František Müller in Prag (1928–1930) oder des Textilfabrikanten Hans Moller in Wien (1927) zu sehen sind. Sie zeigen die Architektur nicht nur von außen, sondern geben mit Schnitten auch Einblicke in das Innenleben.

Bereits um 1903 hatte Adolf Loos seinen „Raumplan“ entwickelt: ein System, bei dem die Stockwerke nicht wie Tortenböden übereinander geschichtet wurden. Stattdessen wurde jedem Raum eine eigene Höhe und Weite zugestanden – je nachdem, was seine Nutzung verlangte. Das Ergebnis ist eine komplexe Abfolge ineinander verschränkter Räume, die mit hohen wohnlichen Qualitäten aufwarten.

Distanzierte Betrachtung 
Die Ausstellung im MAK ist keine umfassende Retrospektive, sondern eher eine kleine Werkschau. Man könnte auch sagen: eine Pflichtübung, um die in Wien beim Namen Loos kein Weg herum führt. Alle anderen großen Museen und Institutionen weltweit haben sich bedeckt gehalten. Das mag verwundern, wo doch das Bauhaus-Jubiläum 2019 umso größer gefeiert wurde. Der Grund für diese Zurückhaltung kommt aus einer anderen Richtung. Denn längst hat die Me-too-Bewegung auch die Architektur erfasst. Bereits zu Lebzeiten sorgte ein Prozess für Aufsehen, nachdem Loos 1928 drei Mädchen im Alter von acht bis zehn Jahren in seiner Wohnung zeichnete und es dabei auch zu sexuellen Bedrängnissen gekommen sein soll. Loos wurde in fast allen Anklagepunkten freigesprochen, womit die Sache unter den Tisch gekehrt worden ist.

Das änderte sich 2014, als bei einer Wohnungsauflösung in Wien die verschollene Gerichtsakte gefunden wurde und auf 300 Seiten ein erschütterndes Bild der Vorwürfe zutage trat, die während des Prozesses unter Verschluss gehalten worden waren. Loos, so wird deutlich, hat stark von seiner Prominenz und dem Einfluss gut vernetzter Freunde profitiert. Dass viele Museen und Institutionen heute Vorbehalte haben, erscheint nachvollziehbar. Doch ist Ausgrenzen oder Verschweigen – denn das ist ein Loos-Jahr ohne Loos – die klügere Lösung? Wäre es nicht besser, sich dem Vorreiter der Moderne auf schonungslose Weise zu nähern: von seinen wegweisenden Schriften und Bauten in jungen und mittleren Jahren bis hin zu seinen privaten Verfehlungen im reiferen Alter? Ihn in all seiner Widersprüchlichkeit zu skizzieren?

Dem Zeitlichen enthoben
Dieser Punkt ist umso bedauerlicher, als dass Loos gerade heute überaus aktuell erscheint. Er hat eine Moderne vertreten, die nie kalt und spröde war. Mit seinen atmosphärisch-eindrucksvollen Innenräumen scheint Adolf Loos selbst vielen Architekten der Gegenwart voraus. Er war ein Verfechter sinnlicher Materialien und baulicher Qualität, die keinen Verfallswert kennt. Die 1908 eröffnete American Bar in Wien ist bis heute in Betrieb und stark frequentiert. Für nicht wenige ist sie schlicht die beste Bar, die je gebaut wurde: die steinerne Kassettendecke, darunter Spiegel, die diesen winzigen Raum mit der Anmut eines Saales umgeben, grüne Lederpolster und Tische mit durchleuchteten Natursteinplatten.

Die Bar ist zeitlos im besten Sinne. Und sie hat alle anderen Interieurs überlebt, die die Modernisten der Zwanziger- und Fünfzigerjahre in dieser Disziplin errichtet haben. „Sein Werk ist nicht kontinuierlich“, schrieb Sigfried Giedion anlässlich Loos’ 60. Geburtstag im Jahr 1930: „Aber er hat Augenblicke. In diesen Augenblicken hat er kühner, stichhaltiger und weiter gesehen als alle, die mit ihm begannen. Kein Architekt lebt heute, der nicht ein Stück Loos in sich trüge.“ Ein Punkt, der auch bis heute weiterhin gilt.

ADOLF LOOS. Privathäuser 
Museum für Angewandte Kunst (MAK) 
Stubenring 5, 1010 Wien 
8. Dezember 2020 bis 14. März 2021

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MAK Wien

www.mak.at

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