Stories

Band of architects

50 Jahre Studio65: von Lippen-Sofas, PoMo-Diskos und einem nie versiegenden Spieltrieb.

von Norman Kietzmann, 09.02.2016

Geballte Energie: In den turbulenten sechziger Jahren gründete der Architekt Franco Audrito in Turin die Avantgardegruppe Studio65. Ihre Mitglieder ließen Sofas wie Münder und Sessel wie Säulenkapitelle oder angebissene Äpfel erscheinen. In der Galleria d‘Arte Moderna (GAM) in Turin ist derzeit die Ausstellung Il Mercante di Nuvole (der Wolkenhändler) zu sehen, die einen Rückblick auf die 50-jährige Geschichte der Gruppe wirft. 

Es gab eine Zeit, in der kein Retro existierte. Wochen, Monate und Jahre schritten voran, ohne dass gestrige Dinge wiederkehrten. Die Zukunft war keine abstrakte oder gar gefährlich wirkende Größe. Sie war der Motor, der den Alltag auf Tempo hielt. 1965 trommelte der 23-jährige Architekturstudent Franco Audrito in Turin ein paar Freunde zusammen. In einem Dachgeschoss am Corso Vittorio Emanuele gründeten sie die Gruppe Studio65 und wollten Gestaltung fortan neu denken. Natürlich waren sie damit nicht allein. Als die Beatles und die Rolling Stones den Ton angaben, wollte jeder in einer Band sein. Das galt für junge Architekten genauso.

Architektur-Bands
In London formierte sich bereits 1960 das Kollektiv Archigram, das mit seinen visionären Entwürfen die Städte zum Laufen brachte. In Florenz gründeten sich 1966 die Gruppen Archizoom und Superstudio, die mit gigantischen Megastukturen die Welt umspannen wollten. Was die Gruppen verband, war ihre Kritik an der Moderne. Studio65 fanden jedoch einen eigenen Weg. Während Archizoom und Superstudio eher dystopische Szenarien entwickelten, ließen sich Franco Audrito und seine Mitstreiter Enzo Bertone, Paolo Morello, Paolo Rondelli und Roberta Garosci von der Pop Art anstecken, die auf der Kunstbiennale in Venedig 1964 ihren internationalen Durchbruch erlebte. 

Pop Art für den Alltag
Die Dinge des Alltags sollen nicht nur als Werkzeuge begriffen werden. Sie sollen Ideen repräsentieren. Das Narrative wurde zur Funktion erkoren, was die Gruppe in immer wieder verblüffender Weise umzusetzen vermochte. Die Themen-Reise führte vom antiken Griechenland über den Surrealismus bis ins Zeitalter der Raumfahrt. Der Clou: Während die Pop Art die Warenwelt zu Kunst erklärte, übersetzen Studio65 die Pop Art in alltägliche, aber keineswegs banale Produkte zurück. „Ich denke, dass der Architekt der letzte noch übrig gebliebene Zauberer seit der heiligen Inquisition ist“, bekennt Franco Audrito – der bis heute die kreativen Geschicke des Büros führt.

Sinnliche Möblierung
Zaubern bedeutet für ihn erzählen: den Betrachter mit auf eine Reise nehmen, die in mitunter abenteuerliche, doch meistens auch ganz witzige Gefilde führt. Für Aufsehen haben Studio65 vor allem mit Möbeln und Installationen gesorgt. Das Sofa Leonardo (1969) verwandelt die amerikanische Flagge in ein voluminös-geschwungenes Sitzobjekt. Bilder in Objekte und Flächen zu Raum zu transformieren, gelang der Gruppe mit dem Lippensofa Bocca (zu deutsch: der Mund), das seit 1970 von Gufram produziert wird. Die Idee entstammte einem Gemälde Salvador Dalìs aus dem Jahr 1935, auf dem er das Gesicht der Schauspielerin Mae West als Wohnzimmereinrichtung dargestellt und dem Sofa die Rolle des Mundes zugeteilt hatte. 

Zeitreisen in die Antike
Im Gegensatz zu anderen Avantgarde-Gruppen der sechziger Jahre blickten Studio65 nicht nur in die Zukunft, sondern ebenso in die Geschichte. So folgt der Grundriss von Franco Audritos eigenem Wohnhaus (1970) bei Turin der Villa Rotonda. Beim Umbau der Mailänder Schwimmhalle Contourella (1972) sind die Säulen am Beckenrand mit ionischen Kapitellen geschmückt – ein Element, das sie nur wenige Monate später in ihren radikalsten Möbelentwurf übersetzen sollten: den Sessel Capitello (1971) in Form eines schräg gestellten, ionischen Säulenkapitells. Sich in dem von Gufram aus Polyurethanschaum gefertigten Entwurf niederzulassen, erfordert reichlich Überwindung. Wer es dennoch tut, wird belohnt: Das architektonische Detail verliert seine Härte. Es wird weich und verformbar wie eine Wolke, die die Gesetzmäßigkeiten von Statik und Ergonomie im Möbelbau locker über Bord wirft.
Kommunikative Disko
Das Spiel mit historischen Architektur-Elementen setzten Studio65 auch in den folgenden Jahren fort. An der Autobahn zwischen Cuneo und der französischen Grenze errichten sie 1979 einen Showroom für einen Fliesenhersteller, der sich wie ein postmodernes Manifest liest: eine wilde Mixtur aus Kapitellen, Säulensegmenten und Kuppeln, als hätte man in Las Vegas die Akropolis nach einem Erdbeben zeigen wollen. Studio65 ermutigten den Bauherren, im Souterrain einen Nachtklub zu eröffnen – als zugegeben etwas ungewöhnliche Werbemaßnahme für die Sanitärprodukte. Doch die Rechnung ging auf: Flash Back, so der Name der Disko, erlangte weit über die Grenzen Italiens hinaus Berühmtheit.

Vom Objekt zum Raum
Die Ausstellung in der Galleria d'Arte Moderna lässt diesen Interieurs, die heute größtenteils zerstört sind, ebenso viel Raum wie den zahlreichen Installationen, die Studio65  in den siebziger Jahren für Messen realisiert haben. Auch dem architektonischen Werk wird Platz eingeräumt, das im Gegensatz zum Design kaum bekannt ist. Hier finden sich vor allem Arbeiten im arabischen Raum – angefangen von einem Verwaltungsgebäude (1980), einer Zementfabrik (1994) und dem Palast einer Prinzessin in Dschidda (1996) bis hin zu einer Akademie in Abu Dhabi (2011) und einem Auditorium in Riad (2013). 

„Ich möchte Räume schaffen, die nicht nur auf das Tageslicht und den Verlauf der Jahreszeiten reagieren, sondern eben mit ihren Nutzern interagieren“, sagt Franco Audrito. Auf Kontakt mit den Besuchern setzt ein Parfüm, das eigens für die Turiner Ausstellung entwickelt wurde und einen mit Wolken bemalten Raum durchströmt. Gestaltung besitzt hier keine physische Form, doch dafür eine sinnliche Präsenz. Eine ephemere, wandelbare Wirklichkeit, die allzu passend erscheint für ein Büro, das auch nach 50 Jahren seinen Spieltrieb nicht verloren hat.

Il Mercante di Nuvole. Studio65: 50 anni di futuro 
noch bis zum 28.02.2016 in der Galleria d‘Arte Moderna (GAM) in Turin

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Links

Studio65

www.studio65.eu

Galleria d‘Arte Moderna (GAM) Turin

www.gamtorino.it

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