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Ausstellung Memphis Again in der Mailänder Triennale

Wummernde Beats und grelle Farben: Die Ausstellung „Memphis Again“ in der Mailänder Triennale bricht mit dem Dogma musealer Kontemplation und Distanziertheit. Nicht in verklärter Nostalgie, sondern als wohltuendes Korrektiv zur derzeit etwas bisslosen Möbelwelt.

von Norman Kietzmann, 01.06.2022

Es war ein Abend, der die Welt veränderte. Nicht die politische, aber die ästhetische. Zweitausend Menschen drängten sich am 19. September 1981 auf dem Corso Europa in Mailand und brachten den Autoverkehr zum Erliegen. Die legendäre Eröffnung der ersten Memphis-Ausstellung im Arc’74-Showroom war ein Spektakel. Und ein Richtungswechsel: Sie rehabilitierte das Dekor, brachte Spaß und Ironie in die Gestaltung und begehrte damit gegen die pure Funktionalität auf. Mit welcher Energie und Wucht dies geschah, ist noch bis zum 12. Juni 2022 – dem letzten Tag des diesjährigen Salone del Mobile – in der Mailänder Triennale zu sehen.

Showtime statt Andacht
Die Ausstellung tut gut daran, den vermeintlich neutralen Blickpunkt mit weißen Wänden, Sockeln und Podesten bewusst hinter sich zu lassen. „Wir wollten weder eine Historisierung noch eine Hommage an Memphis. Unsere Absicht bestand darin, die Realität von Memphis wieder aufleben zu lassen. Und zwar so, wie sie damals war und wie sie heute noch ist: lebendig, bunt und amüsant“, erklärt Christoph Radl. Der Kurator der Ausstellung hat als Grafikdesigner ab 1980 mit Ettore Sottsass gearbeitet und die Entstehung der Gruppe und ihrer Arbeiten aus nächster Nähe erlebt. Eine sterile Aufmachung kam für ihn nicht in­fra­ge: „Die Inszenierung folgt daher zwei Schlüssel-Metaphern: Die eine ist die Modenschau. Und die zweite ist die Club-Szene der Achtzigerjahre, das Leben in den Diskotheken“, so Christoph Radl weiter.


Modenschau und Nachtclub
Eine 80 Meter lange Plattform – oder in der Modenschau-Analogie der Laufsteg – windet sich durch den halbkreisförmig geschnittenen Ausstellungsraum im Obergeschoss der Triennale. Mehr als zweihundert Exponate werden darauf in chronologischer Reihenfolge gezeigt – von Möbeln über Leuchten, Vasen, Aschenbechern und Teppichen bis hin zu Schmuckobjekten. Boden, Wände und Decke sind mit schwarzem Stoff verhüllt. Scheinwerfer mit farbigen Lichtern bewegen sich, akzentuieren und verstärken die schrillen Farben der Entwürfe. An die Wände werden Zitate von Architekt*innen, Designer*innen und Kritiker*innen projiziert. Darüber liegt ein Klangteppich, der vom US-amerikanischen DJ Seth Troxler gemischt wurde. „Der Soundtrack zieht Inspiration aus dem Nachtleben der Achtzigerjahre und ist doch zeitgenössisch interpretiert“, sagt Christoph Radl auf der Pressekonferenz im Garten der Triennale.

Design als öffentliches Interesse
„Memphis leugnet nicht die funktionale Utopie, sondern betrachtet die Funktionalität mit einem sehr offenen Auge, eher wie ein Anthropologe als wie ein Marketing-Experte. Funktionalität wird also nicht nur im Hinblick auf bestimmte ergonomische Standards oder Verkaufsstatistiken verstanden, sondern auch in Bezug auf die Idee eines öffentlichen Bedürfnisses, eines historischen Antriebs“, erklärt Barbara Radice bei der Eröffnung. Als kreative Leiterin hat sie 1981 zusammen mit Ettore Sottsass die Entwicklung der ersten Memphis-Kollektion gesteuert, die von Michele De Lucchi, Matteo Thun, George J. Sowden, Ettore Sottsass, Martine Bedin, Nathalie Du Pasquier, Aldo Cibic und Marco Zanini entworfen wurde. Später sind als „Gäste“ Andrea Branzi, Peter Shire, Masanori Umeda, Gerard Taylor, Shiro Kuramata, Michael Graves, Hans Hollein, Arata Isozaki und Javier Mariscal hinzugekommen – wodurch die Bewegung auf eine europäische und globale Ebene gehoben wurde.

Kommerz mit Nicht-Kommerz
Der Impuls für die Ausstellung kam auch von unternehmerischer Seite. Im Februar 2022 wurde das Unternehmen Memphis Milano, das die Entwürfe der Memphis-Gruppe aus den Jahren ihres Bestehens von 1981 bis 1987 produziert, verkauft. Die neuen Eigentümer*innen – Sandra und Charley Vezza – sind keine Unbekannten. 2012 haben sie den Möbelhersteller Gufram übernommen, der einige der bekanntesten Entwürfe des Radical Designs der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre fertigt. Und sie haben es geschafft, das angeschlagene Unternehmen wieder erfolgreich am Markt zu positionieren – nicht trotz, sondern gerade wegen seiner oft gewagten Entwürfe.

Beide Unternehmen – Memphis Milano und Gufram – werden nun unter dem Dach der eigens gegründeten Gruppe Italian Radical Design zusammengeführt. „Alle in der Ausstellung gezeigten Objekte sind neu und wurden auf die gleiche Weise hergestellt wie 1981. Es handelt sich nicht um Neuauflagen, limitierte Editionen oder Reproduktionen. Daher auch der Titel der Ausstellung Memphis Again. Es geht darum, die Dinge wieder und wieder und wieder zu produzieren“, sagt Charley Vezza, Chef von Italian Radical Design.

Belebung der Gegenwart
Brauchen wir diese Zeitreise? Ja! Weil vor allem die Gestaltung von Möbeln in den letzten Jahren immer belangloser und austauschbarer wurde, wirkt Memphis noch immer als Korrektiv der Gegenwart. Es zeugt von einem Glauben, nicht nur die sichere Karte spielen zu müssen und Design als Teil der Kultur und nicht nur als Kommerz zu verstehen. Bleibt zu hoffen, dass sich der rebellische Geist von Memphis bei diesem Salone del Mobile auf viele neue Entwürfe übertragen wird. Nicht als Zitat, sondern sinnbildlich. Denn wie George J. Sowden treffend sagte: „Es gibt keinen Memphis-Stil. Memphis ist eine Haltung.“ Und davon brauchen wir heute mehr denn je.

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www.triennale.org

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