Milan Design Week 2018: Wer wagt, gewinnt
Zwischen artigen Nachwuchs-Professionals sind es die Ausreißer, die man unbedingt näher betrachten sollte.
Antivisionäre Jugend: Profis, die sich keinen Fehltritt erlauben. Wer sich beim Nachwuchs der Milan Design Week umsah, fand vieles, das nach Design aussah, aber keines war. Und so manches, das nicht wie Design wirkte und doch unbedingt näher betrachtet werden sollte. Ein Rückblick auf das Nachwuchsdesign in Mailand.
Zum 21. Mal bot die Nachwuchsplattform SaloneSatellite Jungdesignern unter 35 Jahren auf der Mailänder Möbelmesse eine Bühne. Die es geschickt zu nutzen galt, schließlich haben schon viele bekannte Designer hier ihre Karriere gestartet. Leider aber offenbart sich in vielen Beiträgen eine unglückliche Gleichung: Je professioneller ich mich gebe, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden. Kurz gesagt: Fake it till you make it. Überall perfekte Auftritte, marktreife Prototypen, Möbel, Accessoires, die gleich morgen in Produktion gehen könnten, aber letztlich wenige Fragen stellen.
Was aus Markt-, Hersteller- und Designerperspektive zielgerichtet wirken mag, ist in kultureller Hinsicht desaströs: eine Generation ohne Vision, der abertausendste schöne Beistelltisch, die zigste clevere Leuchte, ein Regal, eine Kommode, ein Hocker, ein Spiegel: Jung sein heißt schon lange nicht mehr auch wild zu sein. „Wagt etwas!“, möchte man sie wachrütteln. Denn Experimentieren, Forschen, Provozieren zahlt sich aus – das beweisen die wenigen, die das Programm mit ihren unfertigen oder roh wirkenden Ausstellungsstücken beleben.
So befreit etwa die Chinesin Tianyi Shi kurzerhand das Sitzpolster von seinem Bezug und schnallt bunte Schaumstoffquader quer über eine hölzerne Basis – jedoch nicht, ohne vorher die optimale Position der Kissen für verschiedene Sitzszenerien erprobt zu haben. Die haptische Erfahrung mag ungewöhnlich sein, ausgefallen und einprägsam ist der Entwurf allemal. Die Raffinesse der japanischen Textildesignerin Yuri Himuro entdeckt man dagegen erst auf den zweiten Blick. Für ihr Projekt Bloom hat sie ein Webverfahren entwickelt, bei dem Vorder- und Rückseite ein jeweils komplett verschiedenes Motiv erhalten. Die Wolldecken gibt es in vier kräftigen Blüten-Blätter-Motiven.
In einem Gemeinschaftsprojekt von Laura Jungmann, Jonathan Radetz (beide arbeiteten bereits im Projekt Istanbul’Dan zusammen), Martha Schwindling und Elena Tezak entstand mit Fiber Mates eine Serie aus Sitzelementen und modularen Raumteilern, die aus dreidimensional formgepressten Kunststofffasern alter PET-Flaschen (Fiber Injection Molding) gefertigt werden und neben ihren Recyclingeigenschaften auch akustische Qualitäten aufweisen. UdK-Master-Absolvent Eric Esser weiß das zufällige Fehldrucken von 3D-Druckern gezielt für sich zu nutzen. Er hat die Technik so umprogrammiert, dass die Geräte Strukturen erzeugen, die normalerweise nicht möglich sind. Durch Gestaltung effizienter Printpfade schafft er daneben ultrafeine Gitterstrukturen – die Industrie hat bereits ein Auge auf ihn und seine Erzeugnisse geworfen. Die Lektion: Wer sich mehr auf abseitige Problemstellungen und weniger auf Instagram und nette Erscheinung konzentriert, kommt weiter.
Unterdessen bewiesen Studenten der Ecal in Brera, wie gut Professionalität und Experiment zusammengehen können. Für Digital Market holte sich die Schule aus Lausanne namhafte Designer wie die Bouroullecs, Pauline Deltour, Big-Game oder Sebastian Wrong ins Boot, die neben den Designs der Studenten etliche weitere kleine Alltagsobjekte gestalteten, welche live vor Ort von 3D-Druckern des US-Herstellers Formlabs erzeugt wurden. Erstanden werden konnten sowohl die Produkte als auch die 3D-Vorlagen (dann zu einem Einheitspreis von je 9 Euro). Ein weiteres Projekt in der erfolgreichen Serie der Ecal-Hersteller-Kooperationen ist die Zusammenarbeit von Master-Studenten mit Foscarini: Aufgabe war die Gestaltung von tragbaren Leuchten – ausgestellt im Palazzo Litta. Ganz ähnlich das Projekt Poetry of Light der FH Nordwestschweiz zusammen mit dem Schweizer Leuchtenhersteller Ribag.
Besonders poetisch ist auch das Design der Gewinnerin des ein&zwanzig-Wettbewerbs, den der Rat für Formgebung jetzt zum zweiten Mal vergab. Die Berlinerin Sofia Souidi hat gerade ihren Master am Royal College of Art in London absolviert und präsentierte in Mailand eine Leuchte, die den Lauf der Sonne in dunklere, von Tageslicht vergessene Räume bringen soll. Auch schön ist das Projekt von Jan Christian Schulz, der versucht hat, den jahrhundertelangen Konservierungsprozess von Mooreichen zu beschleunigen – mit Erfolg: Sein künstlich gealtertes Holz weist ähnliche Eigenschaften auf wie das Original, nicht nur optisch.
Am Material der Zukunft haben schließlich Studenten der Kunsthochschule Burg Giebichenstein geforscht. „Biotechnologie ist die Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. Doch wohin möchten wir, dass sie führt?“, lautete die Fragestellung des Projekts Microbes. In zwei Stufen wurde experimentiert, wie zunächst Bakterien Mineralien erzeugen, die sich beispielsweise zu Möbeln anreichern lassen – Lime Mycelium von Ruben Strahl. In Teil Zwei wurde das Potenzial von Algen untersucht. Auch hier wurden mittels Versuchsanordnung mineralische Formen erzeugt: wie Porifera Mollusca von Tom Bade, eine perlmuttartige Struktur, die die Eigenschaften von Muscheln und Schwämmen verbindet, indem sie zu 95 Prozent aus Calciumcarbonat und zu 5 Prozent aus organischem Material besteht – was sie etwa 3000-mal stärker macht, als ihr anorganisches Original.
Nicht immer genau zu wissen, was man mit einer Studie oder dem Ergebnis eines Experiments anfangen wird, kann ins Leere führen – so ist das nun einmal. Das erlangte Wissen aber bleibt, wie die Gabe, sich mit komplexen Fragestellungen bis ins Detail auseinanderzusetzen. Hierin steckt die eigentliche Professionalität, und am Ende der Gewinn – im Wagnis. Denn: Wer nicht wagt, hat schon verloren.
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