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Salone del Mobile 2017: Divendämmerung in Mailand

Testlabor für neue Hotel- und Apartmentwelten: die 56. Mailänder Möbelmesse.

von Norman Kietzmann , 11.04.2017

Die 56. Mailänder Möbelmesse erkundet neue Freiräume. Immer mehr Designer verlegen den Fokus von der Form auf die Oberfläche und setzen einen belebenden Stilmix aus Farben, Mustern und haptischen Strukturen in Szene. Mit klarem Fokus auf räumliche Situationen erfindet sich die weltgrößte Möbelschau zurzeit in Ansätzen neu: Als Testlabor für neue Hotel- und Apartmentwelten, in denen weniger die einzelnen Objekte als vielmehr atmosphärische Ensembles zählen. 

Es war wieder brechend voll. Und das Wetter spielte ebenso mit. Selbst die kollektiven Streiks der Mailänder Verkehrsbetriebe ATM sowie der Fluggesellschaft Alitalia am Mittwochmorgen konnten die gute Stimmung nicht drücken. Mit 343.600 Besuchern aus 165 Ländern wurde 2017 ein Anstieg um zehn Prozent gegenüber 2015 verbucht, als der Salone del Mobile zuletzt von der Lichtschau Euroluce sowie der Büromesse Workspace3.0 begleitet wurde. 

„Enorme Besucherströme, die nicht zwangsläufig mit dem Design verbunden sind, haben ihren Weg nach Mailand gefunden, um den Nervenkitzel dieses Salone und der Stadt zu erleben“, erklärt Messechef Claudio Luti zufrieden. Zu den angesprochenen Neulingen im Salone-Zirkus gehören zahlreiche Hotel- und Immobilienentwickler, die zwar keine Ausschau nach neuen Sesseln halten, doch dafür nach dem räumlichen Zeitgeist. Und wenn sie schon mal da sind, betreiben sie sogleich ein Casting für jene Gestalter und Firmen, denen sie die Umsetzung ihrer bevorstehenden Projekte anvertrauen könnten. 

Kuratierte Wirklichkeit
Die Konsequenz daraus: Der Salone ist nicht nur Möbelschau, sondern ebenso Trubel, Lärm und Networking. Dass bei all den Partys und Präsentationen die eigentlichen Objekte fast in Vergessenheit geraten, gehört zur Tradition. Denn der Fokus hat sich längst von einzelnen Produkten zu gesamtheitlichen Welten verschoben, die eine Vielzahl an Fragmenten zu einem atmosphärischen Ganzen verbinden. Die Arbeit des Designers bewegt sich immer mehr in Richtung Innenraumgestaltung. Produkte werden in Ensembles eingebunden, die als lebendige, „unreine“ Collagen eine Vielzahl an Stilen und Geschmäckern zulassen – genau wie in einem wirklichen Zuhause. Das sterile Designapartment aus einem Guss, so die unmissverständliche Botschaft, hat ausgedient. 

Der Wohnraum als Bühne
Immer häufiger verschwimmen die neuen Möbel mit den dekorativen Objekten der Stylisten: Fundstücke vom Flohmarkt, Vasen, Briefbeschwerer, alte Schreibmaschinen, historische Spielzeugfiguren und Skulpturen binden selbst unscheinbare Messeneuheiten in warme, lebensnahe Situationen ein, die die Sterilität des Neuen hinter sich lassen. Nicht nur Tische und Sideboards werden in dekorative Bühnen verwandelt. Auch die Systemmöbel-Hersteller steigen in dieses Spiel mit ein. So stellte USM die Beleuchtungslösung USM Haller E vor, bei der LED-Streifen in die metallenen Trägerstrukturen schlüssig integriert werden, um nicht nur Accessoires und Sammlerstücke effektvoll in Szene zu setzen. Die leuchtenden Möbel können ebenso Wände akzentuieren und Smartphones aufladen. 

Aktivierung der Oberfläche
Die Sehnsucht nach räumlicher Atmosphäre führt zu einer Aktivierung der Oberfläche. Marmor kommt nicht nur in weißen Carrara- oder schwarzem Marquina-Tönen zum Einsatz. Der Tisch Grasshopp, den Piero Lissoni für Knoll International entworfen hat, zieht die Blicke in grünen und dunkelroten Nuancen mit starken Maserungen auf sich. Cappellini stattet die Fronten des Regals Sistema (Entwurf Studio Cappellini) mit Wurzelholzfurnieren aus. Auch bedruckte und bemalte Oberflächen sind zu sehen. Ferruccio Laviani überzieht die Füße des Tisches Fatty von Emmemobili mit unregelmäßigen Streifen, die an Baumringe erinnern, während die rot lackierten Fronten des Sideboards Trapezio (ebenfalls für Emmemobili) mit Holzmaserungen aus eingesetzten Messingfäden übersäht sind.  

Materialität als Illusion 
Auch Glas ist nicht einfach nur durchsichtig, sondern wird mit Strukturen belebt wie bei Patricia Urquiolas Tischserie Liquefy für Glas Italia. Die grünen oder rosafarbenen Drucke lassen an die Maserungen von Natursteinen denken. Indem auch die Füße dieselbe Oberfläche haben, entsteht ein flirrender Moiré-Effekt. An anderer Stelle treten neue Komposite in den Mittelpunkt, die mit ihren farbig gesprenkelten Oberflächen an eine Neuinterpretion des klassischen Terrazzo denken lassen. Ein spannendes Beispiel hat der Écal-Absolvent Dylan Casanovas mit dem Regal Dapple aus recyceltem Kunststoff und pulverbeschichtetem Stahl vorgestellt. 

Das niederländische Designkollektiv Envisions hat mit dem spanischen Materialhersteller Finsa sogleich eine Kollektion von dekorativen MDF-, Melanin- und Holzspanplatten entwickelt, die spannende, grafische Impulse in die derzeit doch recht Marmor-fixierte Möbelwelt bringen. Indem sie die Oberflächen auf spielerische Weise zum Sprechen bringen, transportieren sie das Memphis-Muster Bacterio geradewegs in die Gegenwart. Auf den Spuren der Achtzigerjahre-Gruppe wandeln Eugene und Anna Timmerman mit ihrer Tischserie Hannah-Kit von Moroso, deren Tischplatte aus orange gefärbtem Fake-Holz-Laminat einst von Ettore Sottsass für Alpi entworfen wurde. 

Unpräzise Formen
Einen Kontrapunkt zur Oberfläche setzt die Form. Keine Diven, sondern generische, dem kollektiven Bewusstsein entsprungene Archetypen dominieren das Geschehen. Entwürfe wie Zaha Hadids Sessel Tippy für Sawaya & Moroni zählen zu den wenigen skulpturalen Möbeln, die dennoch auf diesem Salone zu sehen waren – was in diesem Falle jedoch an einer verspäteten Serienfertigung des 2011 angefertigten Entwurfs lag. Auffällig ist hingegen der Hang zu unpräzisen Geometrien. Wie Eisschollen treiben die Sessel, Poufs und Sofas aus Patricia Urquiolas Polsterprogramm Floe Insel von Cassina auf dem Wohnzimmerboden. Selbst kubische Möbel zeigen weiche Konturen wie Stephan Diez’ lederbespannter Sessel Falstaff für Dante oder das Regal Baleno, das Ronan und Erwan Bouroullec für Cassina gestaltet haben. Dessen Böden sind aus einem flexiblen Thermoplast gefertigt, der sich je nach Gewicht der abgelegten Gegenstände unterschiedlich stark dehnt und eine aufgelockerte Komposition statt eines starren Rasters an die Wand bringt.  
Wohnliche Hybride
Die räumlichen Maße tendieren indes in zwei verschiedene Richtungen: Auf der einen Seite stehen elegante, großzügige Polstermöbel wie Antonio Citterios Grand Sofà für Vitra, das in geräumigen Lofts und mondänen Wohnungen am besten zur Geltung kommt. „Sofas werden heute ganz anders benutzt als früher. Sie dienen nicht nur zum Entspannen, Lesen oder Fernsehschauen, sondern ebenso zum Essen oder Arbeiten“, erklärt der Mailänder Gestalter. Indem die Rückenlehne mit einer rückseitigen Ablage verschmilzt und einen kleinen Tisch definiert, wird das Sofa nicht nur räumlich von der Wand entkoppelt. Es wird auch funktionell als Mittelpunkt des Wohnens neu definiert. Auf der anderen Seite rücken kompakte Möbelentwürfe in den Vordergrund wie bei der von Nendo gestalteten Serie Flow, bei der kleine Tische und Vasen zu raffinierten Ensembles kombiniert werden. 

Kompakte Dimensionen 
„Wohnraum ist längst nicht nur in London und New York fast unbezahlbar geworden, sondern ebenso in vielen anderen Städten und Metropolen. Mit unserer Arbeit wollen wir uns damit nicht verschließen, sondern kompakte und leicht zu transportierende Möbel entwerfen“, erklärt Lyndon Neri vom Designerduo Neri Hu. Ihre Badewanne Immersion für Agape kommt mit einer kleineren Grundfläche aus, ist dafür jedoch weit höher geformt und erlaubt ein aufrechtes Sitzen wie in einer japanischen Oasen-Quelle. Parallel dazu haben Neri & Hu die Möbelserie Ren von Poltrona Frau um ein Minisofa, einen Sessel sowie um ein Bücherregal erweitert. Kompaktes Sitzen wird auch bei Magis ins Visier genommen, wo die Bouroullec-Brüder die Tisch- und Stuhlserie Officina um ein schlankes Sofa ergänzt haben, während Konstantin Grcic das ebenfalls für Magis konzipierte Tischprogramm Brut um passende Sessel und Sofas mit einer Rahmenstruktur aus Gusseisen erweitert hat. 

Große Bühne, kleines Möbel
Dicht gedrängt, versammelte sich am Dienstagmorgen die halbe Designpresse des Planeten im Teatro Manzoni und lauschte den beiden Protagonisten, ohne die dieser Andrang kaum zu erklären wäre: Tom Dixon und Ikea Designchef Marcus Engman, die mit dem Sitzprogramm Delaktig das Ergbenis ihrer ersten Zusammenarbeit vorstellten. Auch hier dominiert eine einfache generische Form, die jedoch einen funktionalen Mehrwert auf kompakter Fläche erzielt. Ganz ohne teure und schwere Mechanik lassen sich die Rückenkissen und Armlehnen entfernen, damit das Sofa in der Nacht als vollwertiges Bett dient. Dixons Entwurf ist keine Skulptur, sondern ein unscheinbarer Geselle, der im Hintergrund bleibt. „Ich wollte in dieses Projekt ein wenig kontroverser gehen. Doch Ikea hat sich überhaupt nicht darauf eingelassen, sich mit mir zu streiten. Ich war schon richtig enttäuscht“, scherzte der Londoner Designer, während er es sich in seinem Entwurf gemütlich machte. 

Alles andere als Schminke 
Wie ein Sprung durch die Zeit gelingt, hat Designer Paul Cocksedge in einem Kellergewölbe am Corso Venezia unter Beweis gestellt. Als er 2016 erfuhr, dass er sein Londoner Studio räumen musste, initiierte er ein ungewöhnliches Projekt. Er ließ Bohrungen in unterschiedlichen Durchmessern im Betonboden vornehmen und verwendete die freigelegten Kerne als Basis einer neuen Möbelkollektion, die in Zusammenarbeit mit der New Yorker Designgalerie Friedman Bender umgesetzt wurde. Gläserne Tischplatten und Regalböden werden von Betonzylindern in Position gehalten, die nicht nur wegen ihrer Rauheit faszinieren. 

Die Farben der zersägten Kieselsteine treten aus dem Zement als subtiles Muster hervor – womit sich schließlich auch der Bogen zum Thema dieser Messe schließt. Dekor und Atmosphäre müssen keine aufgetragene Schminke sein, um fade Produktideen in ein besseren Licht zu rücken. Sie können aktiv aus dem Prozess des Machens heraus entstehen und tatsächlich als geeignete Werkzeuge dienen, um der derzeit etwas festgefahrenen Wohnwelt neuen Schwung zu verleihen. Es sind die inneren und nicht die äußeren Werte, auf die es heute ankommt.

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Mehr zum Salone del Mobile 2017 lesen Sie in unserem Special.

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Salone del Mobile

www.salonemilano.it

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